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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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Engländer in makellos sitzendem Anzug, ein Glas Champagner in der Hand, hielt die Augen geschlossen. Die Melancholie der Callas. Der Modedesigner Alexander McQueen hatte sich kurz zuvor das Leben genommen, einen Tag vor der Beisetzung seiner Mutter. Eine der Wände war übersät von handschriftlichen Notizen. Es waren Abschiedsgrüße, die die Leute aus der Modebranche dort hingepinnt hatten. Sätze wie »Ich hoffe, du bist jetzt glücklicher«, »Du wirst uns fehlen, deine Kleider allein sind nicht genug«, »Ich habe dich unbekannterweise geliebt« und ein über alles erhabenes »Ich wusste von nichts«, das ich soeben fotografiert hatte und das ich von meinem Sitzplatz aus vage an der Wand orten konnte.
    Im Foyer hatte mich ein Gefühl der Trostlosigkeit überwältigt. Ein über Jahre aufgestautes Gefühl der Mühsal, die es kostete, dies alles auszuhalten. Und dann eine Gewissheit, die mir schier den Atem zu verschlagen drohte: Ich würde das verlieren, was ich liebte. Diese sichere Erkenntnis war schuld daran, dass ich meine Einladung losließ, die davon­segelte und etliche Meter vor mir liegen blieb. Ich konnte nachvollziehen, warum der Designer sich umgebracht hatte. Man ersinnt wieder und wieder etwas Neues, verzeiht, schöpft frische Kräfte, sprengt Grenzen, wirft Ballast ab, ­redet Dinge schön, leistet Herausragendes, man kämpft, steckt ein, und eines Tages kann man nicht mehr. Ich verspürte plötzlich das Bedürfnis, dass sich ein Leib ganz eng an den meinen schmiegt, schnell und vor allem, ohne dass derjenige mich kennt. Meine Lebensgeister schwanden gerade endgültig dahin. Sie schwanden noch vor denen meiner Mutter für immer dahin.
    Der Engländer schlug die Augen auf. Sie waren von einem blassen Blau und blickten fragend, verschleiert und wie von einer weichen Haut überzogen.

U m zu begehren, muss man begriffen haben, wie wenig wir mit unserem Körper in der Hand haben. Und es wagen, sich in aller Demut seinen Unzulänglichkeiten zu stellen. Der Rest ergibt sich dann ganz von allein. Wie konnte ich so lange solche grundlegenden Wahrheiten missachten? Ich war diejenige, die Angst vor ihrer eigenen Fleischlichkeit hatte und sich in die Schenkel kniff, um sich zu beweisen, dass sie zu Recht am Boden zerstört war. Diejenige, die es nicht ertrug, auch nur den kleinsten Pickel zu haben, aus Angst, dadurch irgendeine Chance zu verpassen. Diejenige, die eines Tages in Schluchzen ausbrach, weil man ihr sagte, sie sei eine schöne Frau. Ich, ja ich wollte einfach nur ein hübsches Mädchen sein, gesegnet mit jugendlicher Makel­losigkeit.
    Ich würde meinen Irrtum am liebsten laut herausschreien. Ich warne die jungen Mädchen, sofern denn die Erfahrung der einen je schon den anderen genutzt haben sollte: Was man vor unseren Augen inszeniert, ist nicht die wahre Lust. Irgendwelche beliebig herausgepickten pornographischen Szenen sind nicht gleichzusetzen mit echter Lust. Die Lust ist nicht schöner als die Pornographie, die durchaus ihre Reize hat. Nein, die Lust ist in Wirklichkeit mit einer höheren körperlichen Reifestufe verbunden.
    Sie stellt sich ein, wenn unser äußeres Erscheinungsbild allmählich Kratzer bekommt. Dann ist es, als habe sich ein Pfropfen gelöst, und in unserem Innern bricht sich angesichts dieser Realität eine sanft strömende, lechzende, ursprüngliche Energie Bahn, ein Schwall unhörbarer Worte. Es öffnet sich etwas. Endlich öffnet es sich, es ist verrückt. Man wird sagen: »Man muss sich trauen und unbekanntes Terrain erkunden.« Man wird Gott weiß was sagen. Ich kann jedoch nichts Unbekanntes entdecken an dem, was sich mir da auftut. Im Gegenteil, ich erkenne zum ersten Mal, dass an diesem Punkt mein eigentliches Leben seinen Ausgang nimmt. Und das undurchschaubare Dunkel, das war davor, das bloße Leben, um zu überleben, das ziellose Umherirren; die Ausflüchte, die ich mir zurechtlegte, die Theorien, die ich daraus herleitete, die Tugenden, die ich mir erfand, die klugen Ermahnungen, die ich mir selbst erteilte, die triviale ­Realitätsferne meiner Sichtweise. Das war die Zeit, in der ich wirklich verloren war. Hätte man mir vor einigen Jahren prophezeit, dass die Hilflosigkeit und Abhängigkeit meiner Mutter meine eigene Überlebensfähigkeit stärken würde, hätte ich dies empört zurückgewiesen. Es widerstrebt einem zutiefst, dies so unmittelbar in Zusammenhang zu bringen. Und doch muss ich heute sagen: Nun, ich persönlich habe auf dieser Welt, auf der das
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