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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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erkläre, dass sie zu hart für sie seien und sie es nicht schaffen werde, sie zu zerkauen. »Lass mal sehen«, entgegnet sie. Sie nimmt eine Mandel, dreht und wendet sie, mustert sie eingehend und wirft sie sich, schwups, in den Mund, hochentzückt. Doch sie merkt ziemlich rasch, dass ich recht hatte. Ich reiche ihr ein Kleenex, und sie spuckt die Mandel, noch ganz, wieder aus. »Wir bringst du das nur fertig, das Zeug zu essen?«, fragt sie mich. Ich antworte, dass ich einfach kräftig zubeiße. »Ja richtig, kraftvoll zubeißen …« Da hätten wir noch so eine dieser für die Jugend harmlosen Übungen, die sie nicht mehr meistern wird. Sie blickt mir absolut ­gerade in die Augen, wie bei all ihren offiziellen Erklärungen, während sie hinzufügt: »Kraftvoll zubeißen und das Leben in vollen Zügen genießen.«

W enn ich krank bin, isst sie nicht mehr. Ich fahre bei ihr vorbei, um ihr ins Gewissen zu reden. »Meine Tochter!«, säuselt sie aus den Tiefen ihrer Kissen, sobald sie nur meinen Schlüssel im Schloss vernimmt. Sie bemüht sich um einen optimistischen Ton, denn es könnte ja sein, dass dies auf wundersame Weise meine Genesung herbeizuführen vermag. Ich warne sie gleich vor, dass ich nicht lange bleiben kann und dass ich ansteckend bin. Sie ihrerseits hält mir vor, dass ich schlecht aussehe, und dass ich als Grund dafür ­erneut meine Wahnsinnserkältung anführe, gefällt ihr ganz und gar nicht. Sie mustert mich eingehender, registriert meine Augenringe, mein schlecht frisiertes Haar, den Gewichtsverlust, der damit immer gleich einhergeht, und ich spüre, wie wehrlos sie sich fühlt, denn ich bin das Schwert, mit dem sie die Attacken des Schicksals pariert. Ich bin die personifizierte Stärke, und es geht nicht an, dass ich zur Schwäche selbst werde. Mit welchem Recht bin ich krank, ich, die Inkarnation der Jugend? Ihr dürres Köpfchen taucht aus den Decken auf, doch sie wagt es nicht, den Gedanken laut auszusprechen, der ihr auf der Zunge liegt. Ich weiß, sie meint, es sei ihre Schuld, dass ich erschöpft bin, es liege an ihrer Existenz. Ich weiß es deshalb, weil sie sagt: »Aber was kann ich denn dafür?« Ich beschwichtige sie. Sie erkundigt sich, ob ich in Sachen Liebe glücklich sei. Ob ich mich denn um die Männer bemühe. Als sei dies der rechte Augenblick! Und während ich dasitze mit Halsschmerzen, mörderischer Migräne, einem Nacken, so steif und hart wie ein Stalaktit, und mir kalte Schauer über den Rücken jagen, ergeht sie sich in ausschweifenden Betrachtungen zum Thema Männer. Habe ich auch wirklich verstanden, dass die Männer …? Ihre wortreichen Ausführungen kreisen um diese merkwürdige Frage, die reiner Selbstzweck ist. Ich glaube, in Wahrheit ist es einfach so, dass sie meine Einsamkeit spürt. Sie weiß, dass ich mich schier verrenke, um ihr zu Diensten zu stehen. Und dann gibt es da momentan auch noch ihre ältere Schwester, die im Krankenhaus liegt und außer uns keine weiteren Angehörigen mehr hat. Ich pendle zwischen den beiden hin und her. Ich habe meine Arbeit, meine alten Damen, meine Freundinnen, für die ich da sein muss, denn es wäre absurd zu glauben, ich könnte ihnen mein Herz ausschütten, ohne eine Gegenleistung dafür zu erbringen. Und nun werde ich zu allem Überfluss auch noch krank.
    Ich muss wieder gesund werden. Und zwar schnell. Denn die Sache ist nicht zu unterschätzen – wenn ich nicht gesund werde, wenn sie durchschaut, dass ich mich einfach nur am Riemen reiße, da mache ich mir keine Illusionen, wird sie ­Bilanz ziehen und ihre mageren Kräfte zusammenraffen, um ohne den leisesten Hauch eines Zögerns, aus reiner Liebe, statt meiner zu sterben.

M ein Job. Die Modenschauen, von morgens bis abends, zwölf Tage hintereinander, auch am Samstag und Sonntag. Es ist nicht die Zeit, die das in Anspruch nimmt, sondern die Tatsache, dass man ganz darein eintauchen muss, nur noch daran denken, von nichts anderem mehr sprechen darf, zu der Überzeugung gelangen, dass es nichts Großartigeres gibt auf Erden, denn andernfalls erscheint einem das, was man sieht, hohl und sinnlos. Ich warne meine Mutter vor: Ich werde nicht groß bei ihr vorbeischauen können. Sie ist gerade in einer Rehaklinik. Am ersten Morgen verlasse ich das Haus, aufwendig zurechtgemacht, um in jener Welt der Mode, in der ich tätig bin, akzeptiert zu werden. Mit meiner Hose, die beinah schon abendfein ist, meinen Absätzen und zwei gewaltigen Colliers bin ich für alles
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