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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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instinktiv aus. Sie sind alle vom selben Schlag: ihre Altersgenossen. Die Generation meiner Mutter verzeichnete in ihren Reihen noch Persönlichkeiten von unbestreitbarer Eleganz. Doch ihre Grandezza wird bald Geschichte sein. In einer Pariser Brasserie sitzt er eines Abends unmittelbar neben mir, während ich mich mit einem Freund unterhalte. Der Freund, der ihn von seinem Platz aus besser sehen kann, beugt sich zu mir her­ über und flüstert mir ins Ohr, dass der Herr zu meiner Lin ken steinalt sei und von atemberaubender Noblesse. »Meine Güte, du machst dir gar keinen Begriff«, fügt er hinzu, »das hat geradezu etwas Magisches …« Ich weiß das schon, denn ich kann es nur wiederholen: Ich erkenne sie an ihrer Aura. Ich blicke mich nach ihm um. Er ist im Gespräch mit einem jungen Mädchen. Trägt seinen guten, beigefarbenen Anzug. Extrem hager. Himmelblaues Hemd. Krawatte in Ecru. Geblümtes Einstecktuch. Lange, sorgfältig manikürte Fingernägel. Sein Gesicht ist vom Alter zerfurcht, doch sein Profil ist das eines Dirigenten und macht ihn über uns erhaben. Ich höre seine Stimme. Er hat einen Akzent, libanesisch vielleicht? Ich spreche ihn darauf an. Und er lässt mich raten: Er ist Syrier christlichen Glaubens. Ist mit seiner Enkelin unterwegs. Er ist ­offenkundig im Alter meiner Mutter. Sein Name ist Philippe. Er siezt seine Enkelin. Sie nennt ihn »Groß­vater«. Was für ein bezauberndes Geschöpf. Sie studiert Architektur und hat ein Zimmer bei den Ursulinen. Ich lasse eine scherzhafte Bemerkung zu diesem Thema fallen. Er will von mir wissen, ob ich Damaskus kenne. Er rollt das r. Er hat Kriege miterlebt, hat Besiegte und Sieger gesehen, Emire, Sultane, Monarchen, Päpste, Obristen, Despoten, Hüter der Nation. Er hat General de Gaulle miterlebt und das Ende ­einer ganzen Kulturepoche. Er ist gespannt auf die neue, hofft, dass ihm noch Zeit bleibt, deren Wert schätzen zu lernen, ist überzeugt, dass im Menschen ein edler Kern schlummert, an den man glauben muss. Er läuft ohne Stock, wie er mir erzählt. Er rechnet sich aus, dass er noch gut zwanzig Jahre leben könnte. »Wenn man es recht bedenkt, so ist das mehr, als es braucht, um zu spielen, zu lernen und sich aus den Banden hinieden zu lösen.« Er legt seine Hand im Laufe des Gesprächs auf die meine, zum Zeichen, dass er meine Meinung teilt – und das tut er, denn ich lasse keinen Zweifel an der Gültigkeit meiner Worte, zeige mich von meiner verwegensten Seite und lasse meine weiblichen Reize spielen. Mein Gott, wie ich den Umgang mit Männern genieße. Er verkörpert für mich ein jahrhundertealtes männliches Selbstvertrauen, das es erlaubt, Frauen durch die Sicherheit der Gesten zu erobern.
    Mein Freund und ich sind sprachlos angesichts einer solchen Vitalität. Ihn kann nichts anfechten. Selbst wenn man bewusst darüber nachdenkt, kann man sich nicht vorstellen, wie seine Kräfte schwinden sollten. Die Lebensflamme ­lodert noch so hell. Wir blicken ihm nach, wie er aufsteht und auf den Ausgang zusteuert. Seine Enkelin formt, ohne ihn zu berühren, mit den Armen einen Ring um ihn, um ihn vor jedweder Gefahr zu schützen. Und meinem Freund und mir drängt sich spontan derselbe Gedanke auf: Sie ist der ­unsichtbare Stock, auf den er meint, verzichten zu können.

Z um Ende des Winters: wahre Schneisen aus Blau am Himmel. Ich bleibe auf der Straße stehen, um mein Gesicht in die Sonne zu recken. Schließe die Augen. Die Wärme dringt durch die geschlossenen Lider hindurch. Das ist Balsam für sie, lässt das, was ich gesehen habe, verblassen. Mein Gehirn ist ein Brunnen, der sich mit frischer Hoffnung füllt, und helle, reine Luft strömt direkt vom Himmel herab dort hinein. Dann erneut Wolken. Das Grau kehrt zurück. Ist aber nicht weiter schlimm. Gleich wo ich bin, werde ich das Licht einsaugen. Meine Freunde brechen einer nach dem anderen in die Ferien auf. Sie schicken Fotos, die mir meine eigene Erschöpfung bewusst machen. Eine Freundin weilt in Istanbul, zwei weitere sind auf Mauritius, wieder eine andere ist mit ihren Töchtern in Venedig, am Morgen hat mich ­jemand aus Rio de Janeiro angerufen, damit ich ihm sage, welche Farbe mir für Sandalen gefallen würde. Die Leute brechen auf und kehren wieder zurück, das ist mehr als normal. Nur ich bleibe gerade, wo ich bin. Ich gäbe viel, aber trotz allem nicht das Leben meiner Mutter dafür, am Strand von Sperlonga, nicht allzu weit von Rom, zu sein, wo jetzt schon Frühling
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