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Der Einsatz

Der Einsatz

Titel: Der Einsatz
Autoren: David Ignatius
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1   Teheran
    Stellen wir uns einen geschäftig belebten Boulevard vor, der einen Hügel hinabläuft wie ein farbiger Tropfen Glasur an der Innenseite einer rauen Tonschale. An Kaufhäusern und Läden zu beiden Seiten der breiten Straße blinken bunte Neonreklamen mit den Logos von Fluggesellschaften, Fastfood-Restaurants und Mobilfunkfirmen, alle paar Häuser unterbrochen von düsteren Transparenten, auf denen in handgemalten Buchstaben an das Blut der Märtyrer erinnert wird.
    Diese Gegensätze sind typisch für die Valiasr-Straße, die Hauptachse von Nord-Teheran. Von den alteingesessenen Vierteln der Innenstadt, in denen bei jedem Freitagsgebet der Hass auf die Ungläubigen geschürt wird, führt sie hinauf ins höher gelegene Viertel Jamaran, wo – gemessen an der Anzahl der nach aktueller Pariser Mode gekleideten Damen und der vielen deutschen Nobelkarossen – die Ungläubigen eigentlich zu Hause sein müssten. Aber der Schein trügt: Hier oben auf den Hügeln liegt das Geheimnis des modernen Iran verborgen, einer Nation, deren Identität in bestimmter Hinsicht ein Gespinst aus Lügen ist. Auch die Valiasr-Straße ist nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Sie ist Warnung und Verführung zugleich. Bereits der Name ist trügerisch. Obwohl sie schon vor Jahren offiziell in Valiasr-Straße umbenannt wurde, heißt sie beivielen Teheranern noch immer so wie vor der Revolution: Pahlavi-Straße.
    So ist das nun mal in Teheran: Einerseits ist es die Brutstätte der islamischen Revolution und die Hauptstadt einer Nation, die gerne die ganze Welt provoziert, andererseits wird hier von der Polizei peinlich genau kontrolliert, ob auch jeder Autofahrer den Sicherheitsgurt angelegt hat. Und wenn die Gläubigen von den Mullahs in die heilige Stadt Qom geschickt werden, dürfen sie es auf dem Weg dorthin nicht allzu eilig haben, wenn sie nicht in eine Radarfalle geraten wollen. Selbstverständlich ist es auch streng verboten, sich die aus dem Ausland kommenden Fernsehprogramme der Ungläubigen anzusehen, weshalb man den
Basidsch-e
, den Milizionären, hin und wieder etwas Schmiergeld zusteckt, damit sie die Satellitenschüssel auf dem Hausdach übersehen. Das Rückgrat der stolzen Stadt Teheran ist so biegsam wie das des ganzen Landes: Man krümmt sich, damit man nicht zerbricht.
    Unsere Geschichte beginnt entlang der Valiasr-Straße, mit einem jungen Wissenschaftler, der dort in einer kleinen Wohnung im Altstadtviertel Jusef Abad lebte und auf den herrschaftlichen Höhen von Jamaran arbeiten durfte. Auf diese Weise war er ein Wanderer zwischen den beiden Welten, jemand mit zwei Seelen in der Brust. Einerseits war er ein Privilegierter, andererseits ein Kind des Zorns, und dieser Zorn richtete sich nicht auf die Ungläubigen, sondern auf diejenigen, die sich anmaßten, über ihn zu herrschen. Diese Geschichte handelt von seiner Entscheidung, sein Wertesystem gegen ein anderes zu tauschen, und wie alle Geschichten von jungen Männern, die sich ihren Platz im Leben erkämpfen,ist es auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und nicht zuletzt eine Geschichte von Verrat, aber auch von Treue.
     
    Als der junge iranische Wissenschaftler an dem Tag, an dem er seine Entscheidung traf, erwachte, klebte ihm das Bettlaken klatschnass am Körper. In der Nacht war ihm der Angstschweiß ausgebrochen, was ihm fast so peinlich war, als hätte er ins Bett gepinkelt. Als ihm das klarwurde, wusste er, dass er handeln musste. Er wollte sich nicht mehr wie ein Feigling fühlen. Da war es besser, den entscheidenden Schritt zu tun und sich seiner Angst zu stellen, anstatt sie zitternd anzustarren wie das Kaninchen die Schlange. Es war eine große Entscheidung wie die, von zu Hause auszuziehen, sich scheiden zu lassen oder fortan nicht mehr zu beten. Man fällt solche Entscheidungen, weil es keine Alternativen gibt. Gäbe es einen anderen, weniger schmerzhaften Weg, wer würde ihn nicht beschreiten?
    Am Abend vor dem Schlafengehen hatte der junge Mann in einem Gedichtband von Simin Behbehani gelesen, der populärsten zeitgenössischen Dichterin des Iran. Sein Vater, der in Teheran Professor gewesen war, hatte sie an der Universität einmal kennengelernt. Wie sein Vater hatte Simin Behbehani den Iran nie für lange Zeit verlassen, aber in ihren Gedichten spürte man deutlich die Sehnsucht, dem Elend hier zu entfliehen. Der junge Mann hatte den Gedichtband aufgeschlagen auf seinem Nachttisch liegen lassen, und kurz nach dem Erwachen las er
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