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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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Lüfte emporflatterte. Sie hielt nach ihm Ausschau mit dem Instinkt einer Blinden. Sie hielt wirklich in einer Weise Ausschau nach ihm, wie man auf ein Wunder wartet, gespannt und erfüllt von einem verstandesmäßig nicht begründbaren Vertrauen, und er, er kehrte wahrhaftig zurück. Flatterte vor ihr umher. Aus der Art, wie er rastlos auf und ab tanzte und schwirrte und dabei kunstvoll verschlungene Linien in die Luft malte, und aus der Art, wie ihr gerecktes Kinn seine Bewegungen nachzeichnete, hätte man schließen können, dass er etwas in die Luft schrieb und sie las, was er da notierte. Von Zeit zu Zeit ließ er sich auf dem Balkongeländer nieder. Und sie beugte sich vor, um sich einen genaueren Eindruck von dem winzigen Geschöpf zu verschaffen. Ich konnte mich weder daran entsinnen, dass meine Mutter je eine besondere Liebe zu Tieren gezeigt hätte, noch daran, dass irgendein Tier sie überhaupt interessiert hätte, wenn man einmal von den Mücken nachts absieht – aber gut, das ist wohl nicht als Liebe zu werten. Ja, sie hatte sogar im Laufe der Zeit eine regelrechte Phobie gegen Insekten entwickelt, was bedeutete, dass sie jedes kleinste Blütenblättchen, das in Paris aufs Parkett fiel, für ein schwarzes Kriechtier hielt. Wir konnten ihr noch so oft sagen: »Das ist nichts weiter«, es half alles nichts; wir mussten ihr exakt beschreiben, worum es sich handelte, ein Eukalyptusblatt beispielsweise, und es ihr in der hohlen Hand bringen und unter die Nase halten, worauf sie sich verkrampfte, weil sie dem Frieden nicht traute. Eine Fliege in ihrer Wohnung brachte sie in ernsthafte Bedrängnis. Keine Spur von Faszination. Das Ganze reichte weit zurück. Für ihre Mutter hatte die Tierwelt ebenfalls nicht existiert. Damals, als ich Armenisch lernte, stand ich eines Abends auf ebenjenem Balkon in Südfrankreich, von dem ich gerade erzählt habe, und fragte meine Mutter: »Was heißt ­eigentlich ›Biene‹ auf Armenisch?« Sie dachte kurz nach und antwortete mir: »Dafür gibt es kein Wort.« Sie besaß doch tatsächlich die Stirn, uns weiszumachen, dass es in Armenien keine Bienen gab. Ich bohrte daher weiter: »Aber wenn deine Mutter in Frankreich eine Biene sah, was sagte sie dann?« Es war eine Fangfrage. Sie malte eine Biene in die Luft, um Aufschub zu gewinnen. Und verkündete schließlich: »Wenn Mama eine Biene sah, sagte sie › Nayé (schau) … Fliege!‹«. So viel zu dem mangelhaft ausgeprägten Wissen zum Thema Tiere in ihrer Familie. Und doch stand sie nun dort, gänz-lich verzückt von jenem Schmetterling. Ich trat auf den Balkon hinaus. Sie wies mich auf das Blau der Flügel hin. Von ­Nahem betrachtet war er wunderschön, und meine ­Mutter, um deren Lippen ein rätselhaft melancholischer Zug spielte, erschien mir in einem überraschend neuen Licht. Sie hatte eine Frage auf dem Herzen: »Was meinst du, wie lange lebt ein Schmetterling?«

E ine Fotografie von ihr und meinem Vater. Saint-Tropez, im Hintergrund die leuchtend rote Fassade des Café Sénéquier. Sie sind beide braun gebrannt, es war eine Zeit, zu der man sich noch nicht in Acht nahm vor der Sonne. Traut umschlungen stehen sie da, denn sie umarmten einander, sobald man sich anschickte, sie zu fotografieren. Sie erkennt sich selbst kaum wieder und will wissen, ob die hübsche Frau dort auf dem Bild nicht eher ihre Freundin Pierrette sei. Sie sieht mich lauernd an, und der Schalk blitzt ihr aus den ­Augen. Sie liebt es, mich glauben zu machen, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist, das erlaubt es ihr, zu einem späteren Zeitpunkt ihre wahren geistigen Aussetzer zu überspielen. Die Töne der Fotografie sind faszinierend, so satt. Dies ist kein verblichenes Ahnenbild aus längst vergangenen Zeiten. Er, mein Vater, in beigefarbener, schlotternder Hose, ist von einem warmen Vanillegelb. Ein feingliedriger Mann, hochgewachsen, Arme und Beine endlos lang, er ist wirklich spindeldürr: Als sie sich näherkamen, war sie zunächst ­schockiert über seine Magerkeit. Sie, an seiner Seite, ist überglücklich, die elegante Dame zu geben. Da stehen sie. Ein Paar.
    Ich bin nach ihnen geraten.
    Ich habe die ihm eigene Arglosigkeit, seine Rechtschaffenheit geerbt, die mich eines Tages dazu bewog, zu einem Mann, den ich gerade erst kennengelernt hatte – es war ­unser zweites Rendezvous –, zu sagen: »Ich habe Angst, dass Sie nicht integer sind.« Mein lieber Vater, unbescholten und durchtrieben zugleich. Ich habe meine
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