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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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ist. Dort unten verkünden die Vögel mit aufgeregtem Flügelschlag, dass uns sechs herrliche Monate ­bevorstehen. Morgens lag der Strand glitzernd vor uns, und wenn wir abends ins Dorf zurückkehrten, war er eine samtig-raue Weite, die wir, die Flip-Flops in der Hand, mit großen Schritten durchmaßen. Auf Formentera saßen wir morgens im Café und lasen Zeitung. Es gibt ein Alter, in dem man wegfahren kann. Und in dem eine Woche Wegsein nicht mehr zählt als ein Tag. In dem man im Brustton der Überzeugung verkündet, dass es sich gar nicht lohne, für eine Woche zu verreisen. In dem man unbekümmert mit Brückentagen und staatlichen Feiertagen jongliert. In dem j eder freie Tag eine Fülle von Möglichkeiten birgt. In dem man den Kopf über Wasser hat. Ich bin hingegen auf Tauchstation und schwimme in der Tiefe umher, ein Stück Schilf rohr im Mund, um meine Sauerstoffzufuhr zu sichern. Stumme Gestalten, die sich wie in Zeitlupe auf dem Grunde dieses Ozeans bewegen: die Alten. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich darüber beklage. Indem ich meine eigenen Bedürfnisse hintanstellte, habe ich in der letzten Zeit mehr ge lernt als zu anderen Zeiten, zu denen ich tun und lassen konnte, was ich wollte, und in denen ich beständig das Falsche tat. Und unter Wasser, ganz unten auf dem Grund, bin ich auf Schätze gestoßen, für die Abenteuer­su chende ein Vermögen hinblättern würden. Gar nicht einmal, um sie für sich zu behalten, sondern einzig und allein, um dabei zu sein, wenn sie entdeckt werden. Um an dem aufregenden Unterfangen beteiligt zu sein.
    Und doch fürchte ich mich. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich wieder so viel auf Reisen gehen kann, wie ich will, das heißt, dem Tag, an dem ich den Strand wiedersehen werde – nicht weil er sich verändert haben wird, sondern weil mein ­eigener Schatten auf dem Sand gegen neunzehn Uhr seinen einstigen Zauber eingebüßt haben wird.

D er Park, in den sie mit mir fuhr, als ich klein war, am Rande des Bois de Boulogne. »Den Ring« nannten wir diesen Teil. Weil ein riesiger Sandkasten eine Art goldenes Siegel in seiner Mitte formte, ja beinahe schon einen kleinen See, und die rosa schimmernden Bäume einen Kreis darum bildeten. Die Reifen meines Fahrrads gruben sich tief in den Sand. Jetzt schiebe ich ihren Rollstuhl dort entlang. Sie zeigt mir die Bank, auf der sie einst die Bekanntschaft ­ihrer Freundin Bouboute gemacht hatte. Bouboute hatte auf meinen Bruder gedeutet und ihrem Sohn zugeraunt: »Komm, geh mit diesem bildhübschen Jungen dort spielen.« Und meine Mutter hatte es gehört. Sie wusste, dass sie mit dem blendenden Aussehen meines Bruders etwas in der Hand hatte, womit sie die ganze Welt verführen konnte. Fünfzehn Jahre lang kehrten die beiden Freundinnen immer wieder treu zu dieser Bank zurück. Jetzt möchte sie sich erneut in die pralle Sonne setzen. Doch zwei Minuten darauf äußert sie den Wunsch, in den Schatten zu wechseln.
    Die Bäume mit dem sahnig weißen Flor sind immer noch da, an den Zweigen wie auf dem Boden ein einziges Blütenmeer, und ich suche meiner Mutter ein schönes Plätzchen in diesem Zuckerbäckeridyll. Dort fühlt sie sich wohl. Sie beobachtet die paar wenigen spielenden Kinder. Es ist ein ganz normaler Wochentag. Drei ältere Herrschaften genießen die Sonnenstrahlen. Ein vierzigjähriger Mann hat es sich mit hochgekrempelten Ärmeln und aufgeknöpftem Kragen bequem gemacht, sein Jackett neben sich auf der Bank, und isst ein Sandwich. Meine Mutter findet es wunderbar. Sie genießt neuerdings das Privileg, einfach ruhig dabeizusitzen und das Treiben auf der Welt zu beobachten. Hauptsache, sie ist nicht länger einsam und allein in ihrer Wohnung eingesperrt. Sie fürchtet, dass ich mich langweile, wenn ich so neben ihr sitze. Und das ist auch bis zu einem gewissen Grad der Fall. Sie sagt zu mir: »Weißt du was, geh doch was Süßes besorgen am Kiosk, und kehr dann wieder hierher zurück.« Ich bemerke la chend, dass ich doch kein kleines Mädchen mehr sei und dass ich überhaupt keine Süßigkeiten mehr esse. Sie erwidert: »Sie sind ja auch nicht für dich, sondern für mich, die Bonbons!« Und fügt hinzu: »Da, nimm mein Portemonnaie.« Keine von uns erwähnt die Tatsache, dass ich ihr Leben mit meinem Geld finanziere. Ich laufe zum Kiosk, besorge weiche Pastillen für sie und für mich ein Tütchen natur­belassene Mandeln. Natürlich komme ich zurück, und sie will die Mandeln probieren. Ich
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