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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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hindern mich nicht daran, rebellische Gedanken zu wälzen. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit ergreift umso stärker von mir Besitz, je schneller ich fahre und mich mit meinem Verkehrsverhalten an den Rand des Gesetzes katapultiere. Warum ich? Wie machen das bloß die anderen?
    Ich parke direkt vor ihrer Tür und stürme so hektisch ­hinauf, dass ich den Schlüssel nur zitternd in die Türe bringe. So hektisch, dass ich es nicht schaffe, die Wohnungstür meiner Mutter zu öffnen. »Bist du es?«, höre ich von der anderen Seite. Mit so schwacher Stimme, dass ich ganz weiche Knie bekomme. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich so gerannt bin. Endlich trete ich über die Schwelle, ich habe es geschafft. Sie liegt fast schon am Boden, halb erdrosselt von ihrem Pullover. Ich schließe sie in die Arme, und sie lässt sich vertrauensvoll hineinsinken. Ich versichere ihr hoch und heilig, dass sie nicht schwer sei. Trage sie zu ihrem Bett. Ich mache mir den Rücken kaputt. Sie ist halb ohnmächtig. »Ich dachte, ich würde alles verlieren, was ich habe«, erklärt sie mir. Als sie im Bett liegt, hat sie Schmerzen im Nacken, in der Schulter, auf der Seite, auf der sie sich mit dem Arm festgehalten hat. Ihr ist schlecht. Ich bringe ihr ein Glas Sprudel. Sie trinkt in so winzigen Schlucken, dass ich zutiefst erschüttert bin. »Danke«, sagt sie, »vielen Dank …« Ich bleibe bei ihr sitzen, so lange es nötig ist, oder, um die Wahrheit zu ­sagen, bis sie nach einem Gläschen Portwein und Salzgebäck verlangt. Die Nachmittagsbetreuung erscheint. Wir erzählen, was passiert ist. Meine Mutter sagt: »Meine Tochter ist hergekommen.« Ich lasse sie allein.
    Es ist zu spät, um in die Redaktion zurückzufahren. Ich habe die Vision, mich ins Auto zu setzen und mich meiner Mutlosigkeit zu überlassen. Ich fühle mich allein. Ich habe gegeben, was ich gern selbst empfangen hätte. Ich bin die­jenige, von der immerzu alles ausgeht, nichts wird jemals zu mir zurückkommen. Doch die untergehende Sonne schickt ihren lang gezogenen Schein über die Straße, in der ich geparkt habe. Goldene Strahlen ergießen sich über mich. Und dann meine Verblüffung im Auto, als ich feststelle, dass mein Lenkrad, die Sitze, die Windschutzscheibe, alles um mich herum in das gleiche Gelb getaucht ist wie der Sitz einer Göttin. Ich schließe die Augen. Eine merkwürdige Zufriedenheit sorgt dafür, dass sich meine Gesichtszüge entspannen. Sie lebt.

F reunde machen mir den Vorschlag, für eine Woche nach Indien zu fliegen. Ich nehme das Angebot an. Drei Monate vor meiner Abreise beginne ich, meine Mutter gedanklich darauf vorzubereiten. Ich erkläre ihr vorsorglich, dass Indien in unserem modernen Zeitalter ganz nahe ist. Ja, das Indien, das ich beschreibe, liegt dichter vor unserer Tür als die Strände der Normandie. Ich mache daraus zudem ein Land, dessen Besuch meiner Mutter zuliebe auf dem Programm steht, in dem es an jeder Ecke charmanten Kleinkram zu kaufen gibt, ein Reiseziel, das nur ein Dummer verschmähen würde. Dies Land ist das Land der Blumen mit vier runden Blütenblättern, die sich auf den bedruckten Stoffen wiederfinden. Das Land der unvorstellbaren Gelbtöne, auch darüber ließen sich ganze Bände füllen. Ebenso wie über die Bouretteseiden, die langen Hemden aus feiner Baumwolle, die orangefarbenen Halsketten. Drei Monate lang mache ich mich auf die große Katastrophe gefasst. Da­rauf, dass sie mir sagt: »Nimm es mir nicht übel, aber ich würde mich sicherer fühlen, wenn du hierbliebest.« Doch sie verkündet entschlossen: »Du tust völlig recht daran zu verreisen!« Oder: »Wann fliegst du gleich noch mal? Das ist phantastisch, dass du Urlaub machst.« Sodass ich mich frage, ob ihr eigentlich klar ist, dass ich dann nicht mehr da sein werde. Spreche ich noch mit derselben Frau, die, Jahre zuvor, befand, dass ich mich mit meinem Umzug vom 16. Arrondissement – ihrem Viertel – nach Saint-Germain-des-Prés, das doch immerhin nur zehn Minuten von ihr entfernt lag, bereits ins Exil begeben würde?
    Als meine Abreise näherrückt, reicht sie mir ein vollgekritzeltes Blatt: Darauf findet sich eine Liste mit Dingen, die ich ihr zusätzlich zu denen, die ich bereits angeboten habe zu besorgen, von unterwegs mitbringen soll. Dort steht, dass ich hier zu Hause die Maße von ihrer Daunendecke nehmen und in Indien unten neue Bezüge aus folgenden Materialien anfertigen lassen soll: »Ripsseide, Bouretteseide, Schantungseide,
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