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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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Mutter, nachdem sie ihre drei Stürze widerstrebend an den Fingern abgezählt hat, beschließt, kein Risiko mehr einzugehen, nicht einmal mehr das zu leben. Sie gedenkt bis zum Ende ihrer Tage im Bett zu bleiben und sich mit ihrem körperlichen Verfall zu arrangieren, an dem sie nichts Negatives mehr zu erkennen vermag.

M aria ist untröstlich. Diese Frau war durch nichts darauf vorbereitet, ein menschliches Wesen fallen zu lassen. Denn genau daran dachten wir beide, sie und ich, während wir meine Mutter unter großer Mühe zu dem mit einem Schutzlaken bezogenen Bett hinüberschleppten. Wie ich schon erwähnte, nährte meine Mutter selbst die Vision, in unmittelbarer Zukunft auf diese Weise zu sterben, nämlich indem sie den Lebenden aus den Händen glitt. Die Geschichte nahm in ihrer Vorstellung einen so ernsten Ausgang, dass sie eine ganz neue Autorität daraus bezog. »Lasst mich doch einfach … Kommt, lasst mich …«, erklärte sie immer wieder, wobei sie für nichts anderes mehr Augen hatte als das, was die Verdammten vor sich sehen. Der Arzt war gekommen, aufgekratzter denn je, da er gerade in ein neuartiges Gerät zur Milderung erster feiner Fältchen bei jungen Frauen investiert hatte. Er war ein blendend aussehender Typ, der, berauscht von der Hoffnung auf eine goldene Zukunft, jeden Kampf zu gewinnen trachtete … »Wie könnte man es ihm verdenken, dass er sich für den angenehmen Weg entscheidet?«, hatte meine Mutter einmal bemerkt. Er stand mit der Antriebslosigkeit alter Leute auf Kriegsfuß. Und sein Beitrag war damit genauso unproduktiv wie mein eigener angesichts der Antriebslosigkeit meiner Mutter. So konnte er beispielsweise keinen Krankenwagen rufen, da man einen alternden Menschen nicht in die Notaufnahme bringt. Sie war ja nicht krank. Man musste auf einen Bruch, auf klare Fakten hoffen, die das abstruse Drama dieses langsamen Verfalls ablösen würden. »Man sollte darüber nachdenken, sie in ein Heim mit medizinischer Betreuung zu ­ geben«, hatte er schließlich vorgeschlagen, den Fuß bereits auf der Schwelle. Ich dachte an die Male zurück, die wir meine Mutter ins Krankenhaus hatten bringen und sie aus ­ihrer vertrauten Umgebung herausreißen müssen. Sooft die zwei zuständigen Sanitäter die schmale Bahre hochgenommen hatten, auf die man sie zwangsverfrachtet hatte, hatte ihr flehender Blick nicht mir, sondern ihrer Wohnung gegol ten. Ich wollte diese Situationen nicht mehr. Zur Enttäuschung des Arztes weigerte ich mich, die Prospekte entgegenzunehmen, die er mir hinhielt. Darin waren unter anderem die Häuser mit medizinischer Betreuung in Paris aufgelistet. Er schüttelte mir die Hand, und ich wusste, dass dies die Sorte Abschied war, die man von jemandem nimmt, für den man nichts mehr zu tun vermag.
    Als der Arzt gegangen war, war unser letztes Fünkchen Hoffnung verflogen. Marias Schluchzen in der Küche war der reinste Fado, auch wenn sie sich darum bemühte, leise zu weinen, um meine Mutter nicht noch weiter zu deprimieren. Ich versprach, dass man mit etwas Phantasie eine Lösung finden werde. Ich stellte meiner Mutter Hilfe in Aussicht, umfassende Hilfe. Binnen einer Woche holte ich zwei weitere Personen mit ins Boot, deren Unterstützung sich als so wertvoll erwies, dass ich mich fragte, wie wir bloß so vermessen gewesen sein konnten zu glauben, wir würden ohne sie auskommen. Ich machte einen Facharzt für Geriatrie ausfindig, der mit dem Thema eingehend vertraut war. Dar aufhin ging es uns allen besser. Doch je stärker ich Maria, die sich so treu aufopferte, entlastete, je mehr Zeit für sich selbst ich ihr verschaffte, in der sie ins Schwimmbad fahren und ­ihren Nacken lockern konnte, je öfter ich ihr sorgenfreie Sonntage ermöglichte, an denen sie meine Mutter einmal eine Weile vergessen konnte, je eindringlicher ich ihr ver­sicherte, dass die neue Regelung mehr Vorzüge besaß als die alte, und je mehr ich mich selbst dazu beglückwünschte, dass es vor allem meiner Mutter besser ging, nun, desto tiefer stürzte ich Maria in die Verzweiflung. Es war, als stützte ich mich auf ihr Versagen. Man kommt sich so dämlich vor, wenn andere das, was man selbst nicht mehr zu leisten vermag, glänzend meistern. Und ich musste ihr gut zureden, musste sie moralisch aufrichten und sie an mein Herz drücken. Ihr wieder und wieder klarmachen, dass weder sie noch ich ­allmächtig waren.

A ls habe eine Art Gedankenübertragung stattgefunden, erhält meine Mutter genau in der
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