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Stummer Zorn

Stummer Zorn

Titel: Stummer Zorn
Autoren: Charlaine Harris
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Verkehrslärm, beißender Smog und Menschen, die mich streiften. Ich hastete durch den Fußgängerstrom der Stadt, immer entschlossen nach vorne schauend, um keinen anderen Blicken zu begegnen. Ich hatte gelernt, daß ich mich auf diese Art am sichersten fühlte.
    Zwei Blocks noch, bis ich meine Wohnung erreicht haben würde. Zwei Blocks, bis ich meine Straßenfassade fallen lassen konnte. Ich war gerade dabei, mir zu überlegen, ob ich wohl noch Wein im Kühlschrank hatte, als ich den Menschenauflauf vor meinem Haus erblickte. Ich war zu aufgebracht, um mich bis zum Hintereingang vorzuarbeiten, zu verunsichert, um einfach in meine Wohnung zu gehen und mich heftig selbst zu bemitleiden. Ich watete durch die Menge, erreichte den Freiraum in ihrer Mitte, wo ich den Aststumpf fand, um den sich das Treibgut versammelt hatte.
    Sie hatte graues Haar und ein graues Gesicht. Ihr Blut auf dem dreckigen Gehsteig neben ihrem Kopf war hell und noch nicht getrocknet. Ich hatte noch nie eine Tote gesehen.
    „Miss Callahan!" sagte eine Stimme an meinem Ellbogen. Mein Portier zitterte vor Aufregung.
    „Was ist passiert, Jesus?" fragte ich. Ich versuchte zwar, nicht hinzusehen, erwischte mich aber doch dabei, Seitenblicke auf die Tote zu werfen.
    Jugendlicher schnappt sich ihre Handtasche, sie umgestoßen, ist auf den Gehsteig geknallt, zack!" Jesus' Englisch war nicht perfekt, dafür aber anschaulich.
    „Haben Sie die Polizei verständigt?"
    „Klar. Sind gleich da. Krankenwagen auch. Ich habe alles gesehen, ich war Zeuge!" Daraufhin wandelte sich sein Gesichtsausdruck von bloßer Aufregung in Bestürzung. Jesus hatte schlagartig die Unannehmlichkeiten seiner Verwicklungen erkannt.
    „Können Sie mich ins Haus bringen?"
    „Oh, sicher, Miss Callahan."
    Das Weihnachtstrinkgeld machte sich bezahlt. Er bahnte uns einen Weg durch die Menschenmenge wie ein kleiner Schlepper, der ein viel erhabeneres Schiff in den Hafen bringt. Ich war zwar mindestens fünfzehn Zentimeter größer als mein Portier, doch der Tag hatte meinen Kampfgeist enorm geschwächt.
    Sicher in die Eingangshalle gelangt, legte ich noch was auf Jesus' Weihnachtstrinkgeld drauf und machte mich dann daran, schnellen Schrittes die Treppe hinaufeuerten. Ich hörte, wie die Sirenen allmählich näher kamen und Jesus' wortreichen Dank übertönten.
    Zugunsten meiner Beinmuskulatur nahm ich immer die Treppen statt des Aufzugs; allerdings bereute ich diese Entscheidung, als ich meine Wohnung erreicht hatte und umgehend die Quittung erhielt. Ich angelte die Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit zittrigen Fingern die Tür. Kaum drinnen schloß ich wieder ab, setzte den Hut ab und spürte, wie mir das Haar auf den Rücken fiel. Ich hatte ihn mir im Büro meiner Agentin einfach irgendwie aufgesetzt, zu verärgert, um darauf zu achten, daß er ordentlich saß. Ich nahm die dunkle Brille (ein weiterer Teil meiner schützenden Verkleidung) ab und steuerte auf den Kühlschrank zu. Selbst meine eigene Wohnung, in der mir alles vertraut und mit Liebe ausgesucht war, die ich mit großer Sorgfalt eingerichtet hatte, spendete mir an diesem Tag keinen Trost.
    Der Nachmittag war bewölkt, weswegen mein Wohnzimmer im Dunkeln lag. Ich machte kein Licht. Die Düsternis paßte zu meiner Stimmung, und der Wein paßte zur Düsternis.
    Mir war danach, ein Glas Wein zu trinken, zu grübeln und vielleicht ein bißchen zu weinen; aber meine dunkle Seite zog mich ins Schlafzimmer vor den dort wartenden Spiegel. Ich nahm auf einem Stuhl vor meiner Frisierkommode Platz. Dort machte ich das Licht an. Ich nahm einen zweiten Schluck Wein und gab mich dann ganz dem Spiegel hin.
    Es war dasselbe Gesicht.
    Manchmal hatte ich nicht mal das Gefühl, es zu besitzen. Man hatte es mit aufgesetzt. Ich lebte dahinter und verdiente mit ihm mein Geld. Ich paßte darauf auf, und es sorgte für mich.
    Meine Agentin hatte mir gerade erzählt, es werde nicht länger für mich sorgen. Die Leute hatten es satt. Es gab neuere, frischere Gesichter.
    Aber das Gesicht war nach wie vor schön. Ich berührte es respektvoll. Gerade Nase, hohe, ausgeprägte Wangenknochen, blaue Augen, schöne Haut. Elegant geschwungene Lippen. Niedliches Kinn. Blondes Haar umrahmte das Ganze.
    Das hatten die Leute satt?
    Ja, jedenfalls laut meiner Agentin.
    „Ich muß schon sagen, Nellie Jean, manche Leute sind ganz schön pingelig", erzählte ich meinem Spiegel. Dann wandte ich mich ab und vergrub mein Gesicht in den Händen.
    Mit
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