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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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war, ach Gott, dass man helfen könne, ohne sich dieser Aufgabe mit Haut und Haar zu verschreiben. Eine Mutter, die am Boden liegt, so sagte ich mir, die hebt man einfach wieder auf (zu zweit, zusammen mit der Hausmeisterin des Gebäudes) und packt sie in ihr Bett, damit sie sich von dem Schock erholt; der Rest gibt sich, und sie kommt von allein wieder auf die Beine. Ich wurde eines Besseren belehrt. Meine Mutter lag in ihrem Bett, mit zwei Knochenbrüchen und gerisse nen Bändern, und wartete ergeben auf den Tod. Sie lehnte es ab, dass ich einen Krankenwagen rufe. Oder einen Arzt. Lehnte jegliche medizinische Behandlung ab. Weigerte sich zu essen. Weigerte sich, Wasser zu trinken, als handle es sich dabei um eine gefährliche Mixtur, der heimlich Tropfen beigemischt worden seien, dazu angetan, ihre Abwehrkräfte komplett zu zerstören. Es war, als renne man gegen eine Panzertür, meine Mutter machte komplett dicht. Sie weigerte sich selbstredend zu lächeln – und wie naiv von mir, dies in einer solch desolaten Lage von ihr zu verlangen.
    Ich ließ sie allein zurück. Und stand kaum am Aufzug, als ich bereits losschluchzte, weil ich mich so unfähig fühlte.
    Ich entsinne mich noch gut, wie ich zu Hause in meinem Bett lag und die ganze Nacht kein Auge zutat, während ich mir einredete, dass ich das nicht könnte. Doch was könnte ich ­eigentlich nicht? Ihr helfen? Sie pflegen? Nein. Was war es dann, das ich nicht könnte? Was erschien mir denn hier als der reinste Weltuntergang?
    Ich könnte ihr nichts geben, das war es. Von einer Mutter möchte man etwas empfangen.
    Als die Morgendämmerung nahte, hatte ich die Möglichkeitsform hinter mir. Das »könnte nicht« war jetzt zum »Ich werde es nicht können« geworden. Immerhin implizierte diese Form eine Zukunft. Und diese Zukunft begann bereits konkrete Gestalt anzunehmen. Um acht Uhr morgens war es dann schließlich so weit, ich hatte mein Schicksal akzeptiert. Ich stand auf, fuhr ohne weitere Umwege zu meiner Mutter und setzte mich auf einen Stuhl neben ihr Bett: »Mama«, sagte ich ihr zum ersten Mal seit meiner Kindheit, »ich hab dich lieb. Du bist alles, was ich im Leben habe. Und wie könnte ich dich, wo ich dich doch liebhabe und du alles bist, was ich im Leben habe, mutterseelenallein, ohne dass sich ­einer um dich kümmert, in diesem Bett dahinkümmern lassen? Das könnte ich nicht. Hör zu, ich möchte, dass du deine Zustimmung dazu gibst, dass ich den Arzt rufe, damit er ­einen Kranken­wagen bestellt; du wirst dann zwar im Krankenhaus sein, aber dafür wirst du medizinisch versorgt, und ich hab dich lieb. Und ich werde dir Mut machen, das schaffe ich. Einverstanden?«
    Diese unvergessliche Sekunde, in der ich voller Spannung auf ihre Antwort wartete.
    »Ja, ich bin mit allem einverstanden«, erklärte sie. Und später im Krankenwagen dann ihr bezauberndes Lächeln, das sie trotz der Schmerzen, die sie litt, wiedergefunden hatte: »Sophie, du überraschst mich.«
    Erwachsenwerden, das vollzieht sich erst eine ganze Weile, nachdem man körperlich ausgewachsen ist, möchte man meinen.

S ie fragte mich, ob ich an die Existenz Gottes glaube. Ich antwortete ihr irgendetwas Vages, etwas, womit ich sie auf subtile Weise zu manipulieren hoffte, indem ich die Diskussion mit der Feststellung eröffnete, dass man es schließlich und endlich nicht sicher wüsste, und mich über die Mächte ausließ, die möglicherweise im Spiel waren. Kurzum, ich rackerte mich mit den Kaninchen ab, die man aus dem Hut zaubert, um der Person beizustehen, die sich, noch eh das letzte Wort gesprochen ist, an Gott versucht. Sie, die mich in- und auswendig kennt, fragte, leicht verwundert über meine plötzlichen esoterischen Anwandlungen: »Du wirst mir doch nicht erzählen, dass du betest?« Ich erwiderte, die Hand aufs Herz gepresst: »Wenn man schreibt, dann betet man auch.«
    Sie warf mir darauf einen dieser Blicke zu, die sie normalerweise für die Farbe Schwarz reserviert hat, eine Farbe, die sie auf den Tod nicht ausstehen kann, und sagte: »Auweia … Bete bloß nicht für mich, hörst du?« Ich wollte wissen, weshalb. Und sie erwiderte: »Lenk bitte nicht die Aufmerksamkeit auf mich.« Und ich begriff, dass sie immer noch, wie eine Geisel, von bodenloser Angst vor dem unabwendbaren Schicksal erfüllt war und sich in letzter Zeit im hintersten Winkel des Waggons verbarg, um nicht als Nächste herausgepickt zu werden.
    Es gab eine Phase, in der sie, die doch Schwarz nicht
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