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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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meine Revolte. In der Zeit vor meinem achtzehnten Geburtstag war ich ein wandelndes Bündel Vorwürfe gegen diese Mutter, die ihr Leben lang nie gelogen hat, der allerdings zugleich nur allzu selten ein Kompliment über die Lippen kam, jene Sätze wie »Du bist hübsch«, die man als Tochter so dringend hören möchte. Ich musste selbst eine Liste mit meinen Vorzügen und Stärken erstellen. Mein Körper war das Beste, was ich besaß. Aber keine Chance, sie sprach nie über das Thema Körper. Ich nahm an, sinnlicher Genuss sei für sie ein Fremdwort. Ich dachte, sie habe keine Ahnung von der Liebe. Und ich verurteilte sie dafür. Die Einzigen, die sie zu lieben verstanden hatte, waren ihre Kinder. Und dann war ich ja auch noch überzeugt davon, dass sie meinen Bruder lieber mochte. Er war für sie über alles ­erhaben. »Dein Bruder hat eine Haut wie ein junger Pfirsich.« Aha, und was war mit meiner Haut? Doch eines Tages waren wir plötzlich zwei, die über sie richteten: Mein Bruder stieß nun ins gleiche Horn. Seiner Einschätzung nach hatte sie mich lieber, da sie wusste, dass ich intelligent war. Und diese Mutter, die gerecht und aufrichtig sein wollte, hatte letztendlich ihre beiden Kinder gegen sich.
    Was ist von der Revolte geblieben? Ach, ich liebe diese kleine Frau, die nicht von dieser Welt scheiden will, so heiß und innig. Den Krieg, den ich führe, führe ich nicht mehr ­gegen sie. Es ist vielmehr ein Krieg, den wir Schulter an Schulter gegen den übermächtigen Feind führen. Die Zeit nimmt uns als Geisel. Und sie wird einen Menschen pro Stunde töten.

M eine Neffen gehen sie soeben begrüßen und knuffen einander in die Schultern, während sie sich ihr ­nähern. Sie wirken auf mich wie zwei kleine Lamas, die aus gutem Grunde nervös und kampflustig werden angesichts der drohenden Gefahr, des schroffen Abgrunds, der sich da plötzlich in den Bergen vor ihnen auftut. Schroff, oh ja, und sie sind sich dessen bewusst. Wenn sie meiner Mutter gegenüberstehen, sehen sie mit eigenen Augen, auf welch unheimliche Art und Weise die Zeit uns verändert. Dass es da kein magisches Schwert gibt. Dass selbst der Herr der Ringe vor diesen Palasttoren innehält. Und nebenbei auch, wie die Macht der Erwachsenen schließlich schwer ins Wanken gebracht wird. ­Jedes Mal wenn mein Bruder meine Mutter zurechtweist oder ermahnt, sind sie zutiefst erschüttert. Meine Mutter selbst bekümmert sich gar nicht darum, sagt nur: »Meine Süßen …«, und breitet die Arme aus. Sie geben ihr einen Begrüßungskuss und treten daraufhin sogleich wieder den Rückzug an, kichernd in einer Mischung aus Ehrfurcht und Verlegenheit. Ihnen macht es mehr als allen anderen zu schaffen, dass sie alt ist. Zugleich sind sie fasziniert davon, dass keiner wirklich ­etwas gegen sie zu sagen vermag − all den Predigten, die sie von sämtlichen Seiten zu hören bekommt, zum Trotz. Gerade erst wurde ihr vorgehalten, dass sie nicht genügend Wasser trinke. Man behandelt sie wie ein Baby. Doch sie sagt nur ­erneut zu ihren Enkeln: »Meine Süßen …« Das ist alles. Für sie bedarf es keiner weiteren Worte mehr, und so begnügt sie sich fortan damit, sie stumm zu mustern, genau wie sie uns alle in letzter Zeit mustert.
    Der Kleinere stellt Fragen. Er ist elf. Er setzt sich über das Mysterium hinweg, das diese Frau umgibt, und will wissen, ob sie eine zusätzliche Decke benötigt, ob ihr Kissen richtig liegt, ob sie vielleicht gern etwas Sirup in ihr Wasser hätte, oder er fragt gleich, ob sie einen Pastis möchte, den zu dosieren sie ihn gelehrt hat. Er versteht es glänzend, Wünsche zu erahnen, abzuspeichern und im Kopf zu behalten. Der Ältere, der dreizehn ist, mimt den Zerstreuten. Er setzt sich so weit seitlich gewandt, dass er ihr, zutiefst anrührend in seiner jugend­lichen Unbeholfenheit, fast schon den Rücken zukehrt, um dem Unerträglichen auszuweichen, nämlich dem Umstand, dass er von ihr vergöttert wird. Vielleicht wegen der Wohl­taten, die ihm dadurch zuteilwerden. Sie wünscht seine Haut zu berühren. Er weiß nicht, wie er reagieren soll. Wagt es nicht, es ihr zu verweigern. Schiebt den Ärmel seines Pullovers hoch und streckt ihr halbherzig einen Arm hin, über den sie behutsam ihre Hand gleiten lässt.
    Wie meine Neffen schwanke auch ich selbst angesichts der Liebe zwischen zärtlicher Fürsorge und Angst.

D er erste Sturz meiner Mutter liegt vier Jahre ­zurück. Damals glaubte ich noch, blutige Anfängerin, die ich
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