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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue
Autoren: Pierre Bellemare
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Die blutende Statue
     
    Alles begann so ähnlich wie bei dem berühmten Kartenspiel von Marius. Wir befinden uns zwar nicht in Marseille, aber nicht weit von dort, in Entrevaux, einem Dorf mit neunhundert Einwohnern in der Region Alpes-de-Haute-Provence, die damals, 1953, noch Basses-Alpes hieß.
    Es war der erste Weihnachtstag, gegen zwanzig Uhr. Jean Leroi, Besitzer der Dorfkneipe, spielte mit dem Dorfbäcker und seinem Lehrling gerade eine spannende Partie Poker. Und er verlor, ja, er verlor sogar beträchtlich... Nachdem er erneut ein schlechtes Blatt bekommen hatte, warf er seine Karten wütend auf den Tisch und stand auf.
    Seine beiden Mitspieler glaubten, dass er entmutigt aufgegeben hatte. Doch weit gefehlt! Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit einem sakralen Kunstgegenstand zurück. Es war eine Figur der heiligen Anna, eine anmutige Statue, aus mehrfarbigem Holz und etwa fünfzig Zentimeter hoch. Die Heilige bringt gerade ihrer Tochter, der kleinen Maria, das Lesen bei — wenn es jemand nicht wissen sollte: Die heilige Anna war die Mutter der Jungfrau Maria.
    Der Bäcker und sein Lehrling waren ziemlich erstaunt. »Was ist denn das?«
    »Die heilige Anna. Ich habe sie bei einer Auktion für eintausendzweihundertfünfzig Franc erstanden.«
    »Du machst jetzt wohl auf religiös, was? Ich hatte gedacht, du magst die Pfaffen nicht.«
    »Ich habe sie gekauft, weil sie mir gefiel.«
    »Ja, das stimmt, sie ist hübsch. Aber warum zeigst du sie uns erst jetzt?«
    »Weil das der Augenblick ist, in dem sie sich auszahlt, jetzt oder nie. Mit ihr werde ich bestimmt gewinnen.« Die beiden Spielpartner von Jean Leroi schienen von dieser Verstärkung aus dem Himmel keineswegs beeindruckt zu sein und zögerten nicht, mit ihm weiterzuspielen. Die Karten wurden verteilt und der Besitzer des Lokals setzte, ohne mit der Wimper zu zucken, sein ganzes restliches Geld ein.
    Er hatte die Wahrheit gesagt: Die Statue der heiligen Anna sollte ihm viel Geld einbringen, aber keineswegs so, wie er sich dies vorgestellt hatte.
     
    Jean Leroi legte seine Karten auf den Tisch. Die beiden anderen Spieler warfen sich einen belustigten Blick zu: »Jean, du hast wieder verloren.«
    Der Besitzer der Dorfkneipe von Entrevaux hatte tatsächlich erneut verloren und überdies ein so schlechtes Blatt wie noch nie gehabt. Dieses Mal verlor er jedoch die Geduld. Er war außer sich und richtete seinen Zorn gegen die heilige Anna.
    »Es ist deine Schuld. Du wirst es mir bezahlen!«
    Er versetzte der Statue einen heftigen Schlag. Sie fiel zur Erde. Als er sie wieder aufhob, stellte er fest, dass ihr beim Herunterfallen ein Finger abgebrochen war. Er grummelte: »Gut, ich klebe ihn später wieder an. Jetzt ist es schon spät. Wir schließen.«
    Seine beiden Freunde widersprachen nicht, überließen ihn seiner schlechten Laune und nahmen ihren Gewinn mit. Jean griff nach dem Besen und fing an zu kehren. Doch kurz darauf rannte er schreiend aus seinem Lokal: »Kommt schnell und seht euch das an!« Der Bäcker und sein Lehrling kehrten um und fanden Jean Leroi in einem Zustand höchster Erregung vor. »Die Statue... sie blutet!«
    Tatsächlich floss der Statue der heiligen Anna, die auf dem Tisch stand, aus dem abgebrochenen Finger eine rote Flüssigkeit. Tropfen fielen herab und bildeten auf den Pokerkarten, die noch nicht weggeräumt worden waren, einen kleinen Fleck.
    »Na so was!«
    »Wir müssen den Arzt holen, damit er uns sagt, was er davon hält.«
    »Wir müssen ein Glas unter den Finger stellen.«
    Kurz danach tauchte der Dorfarzt auf und konnte nichts anderes tun, als das Phänomen zu bestätigen. Er erteilte folgenden Rat: »Lasst uns die Flüssigkeit zum Apotheker bringen, damit er sie untersucht.«
    Die Gruppe der Dorfbewohner, die inzwischen größer geworden war, da Jean Lerois Schreie alle Welt angelockt hatten, begab sich im Gänsemarsch zum Apotheker, der seinen Laden wieder öffnete. Insgesamt enthielt das Glas dreißig Tropfen. Der Apotheker nahm sofort eine Analyse vor und kam zu der Schlussfolgerung: »Es ist ohne Zweifel Menschenblut!«
    Am selben Abend, etwas später, sah Joseph Lainé, der Briefträger von Entrevaux, über dem Dach des Cafés ein blaues Licht. Und zur selben Zeit fing die Statue erneut an zu bluten. Am nächsten Morgen war das Glas zwei Zentimeter hoch mit Blut gefüllt. Die Neuigkeit verbreitete sich im Dorf, dann im Umkreis, bis sie schließlich in ganz Frankreich, ja sogar in einem Teil der Welt bekannt war:
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