Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
Vom Netzwerk:
Zeit, in der sie sich hartnäckig im Bett vergräbt, Post von der Friedhofsverwaltung. An jenem Tag habe ich kaum den Fuß über ihre Schwelle gesetzt, als sie mir auch schon mitteilt: »Ich glaube, ich habe einen anonymen Brief bekommen.« Der Brief liegt auf ihrer Daunendecke, zwischen dem Radiogerät und dem Telefon. Sie weigert sich, ihn anzurühren, und deutet lediglich mit dem Kinn darauf. Doch ich sehe, dass der Brief geöffnet ist, und vermute stark, dass sie ihn auch gelesen hat. Es geht um das Grab ihrer Eltern. Man teilt meiner Mutter mit, dass zum einen die Nutzungsfrist abgelaufen und zum ande ren kein weiterer Platz mehr im Grab sei. Ich falte den Brief zusammen und schiebe ihn in den Umschlag zurück. Ich lasse mir Zeit. Nun ist also der Augenblick gekommen, meine Mutter zu fragen, ob es ihr zusagen würde, neben ihren El tern bestattet zu werden. Ich blicke ihr fest in die Augen und pa cke den Stier bei den Hörnern: »Wo möchtest du denn später einmal beerdigt werden?« Ich setze ihr den Inhalt des Schreibens auseinander. Den Grabnutzungsvertrag der Eltern, die Möglichkeit, ihn zu erneuern und Platz für einen weiteren Sarg zu schaffen. »Wo liegen sie denn?«, erkundigt sie sich. »Auf dem Friedhof von Thiais«, erwidere ich. Sie schneidet eine Grimasse: »Wo ist das denn bitte?« Ich: »Na, das weißt du doch, in Thiais … nicht weit von Paris.« Sie runzelt die Stirn. »In einem Vorort?« Ich räume ein, dass dem so ist. »In Thiais, in einem Vorort …«, wiederholt sie und lässt den Kopf nach hinten ins Kissen sinken, niedergeschmettert von ihrem schweren Los. Ich führe ins Feld, dass ein Grab in ­Thiais immerhin bedeuten würde, dass sie bei ihren Eltern läge. Ihrem Papa. Ihrer Mama. Aber Fehlanzeige! Sie erklärt: »Das sind ja finstere Aussichten. Das wird alles andere als lustig werden.« Sie reibt das Kinn an der Schulter, ihre typische Geste, um ihre Verlegenheit zu kaschieren. Zwischen uns herrscht Schweigen. Ich halte den Brief in Händen, dieses Schreiben zum Thema Tod, in dem das Wort nicht verwendet wird. Ich frage, wie denn nun unsere Entscheidung aussieht. Weiterhin hartnäckiges Schweigen vonseiten meiner Mutter. Ich fasse mir ein Herz und wage einen erneuten Vorstoß: »Würdest du lieber neben Araxie liegen?« Araxie, das war ihre Schwester, ihre kleine Schwester Araxie, die mit dem großen Soziologen Pierre Bourdieu zusammenarbeitete und der die Welt so viele neue Ideen verdankt. »Liegt Araxie nicht ebenfalls in Thiais?«, fragt sie. Ihr Gedächtnis funktioniert immer dann wieder, wenn man am wenigstens damit rechnet. Ich gebe zu, dass dem so ist, dass Araxie ebenfalls vor den Toren der Stadt begraben liegt. Sie verschränkt die Arme und schiebt die geballten Fäuste unter die Achseln. »Da will ich nicht hin«, verkündet sie energisch. Ich frage, wo sie am liebsten hinmöchte. Wenn sie die Wahl hat. Und als ich das Wort »Wahl« ausspreche, fühle ich mich angesichts meiner unwürdigen Fragerei ganz klein und mies. Sie starrt die Decke an, von der sie von nun an auf mysteriöse Art Dinge abliest. Ich sitze gequält daneben, in der Hand den Brief, den Kopf voll von Gedanken an den Tod. Ich erwarte, dass meine Mutter mir ihren Willen in die Feder diktiert, der da lautet: »Ich wäre gern an einem neuen Ort, nicht an einem Ort, der im Bann der Toten und der Vergangenheit steht.«
    Es stellt sich heraus, dass der Friedhof von Montparnasse, auf dem mein Vater begraben liegt, ihr eher zusagen würde. Er befindet sich in der Nähe des Le Select, einem ihrer Lieblingscafés.

D er kleine Friedhof in Sainte-Maxime an der Côte d’Azur. Angesichts des fortgeschrittenen Alters meiner Mutter hatte der Wärter erlaubt, dass wir mit dem Auto bis zur Grabstelle fahren. Ich rollte in Schrittgeschwindigkeit, und meine Mama musterte mit einem reichlich unfreiwilligen Anflug von Interesse die Umgebung. Zu beiden Seiten ragten die Kreuze und steinernen Grabtafeln auf. Und selbst die Bienen wurden schier wahnsinnig bei dem Versuch, in den künstlichen Blumen Honig zu sammeln. Meine Mutter zog angesichts dieses Dekors empört die Brauen hoch, so als wollte sie sagen: »Ich glaube, ich träume, das ist ja wohl ab­artig, was man hier sieht, oder?« Ich selbst betrachtete diesen Friedhof, auf dem auch noch Unmengen von Geranientöpfen und Fettgewächsen mit winzigen Blüten in allen Farben standen, und erwiderte zögernd: »Nun, es ist immer noch besser, hier zu liegen, als woanders,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher