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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten
Autoren: Anouk Markovits
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1939
    Szatmár, Siebenbürgen
    Zalman rannte. Leicht und schnell schlugen seine Fersen im Mittelgang des Gotteshauses auf – und er war nackt. Seine Hand streckte sich nach der Thorarolle über dem Altar, doch die bestickte Hülle glitt ihm aus den Fingern und verschwand. Die Rolle öffnete sich von selbst an einer Passage, die er nicht auswendig konnte. Da lag sie. Auf den schwarzen asuritischen Buchstaben lag Rachel Landau, die Braut seines Studienfreundes. Sie hatte die Zöpfe gelöst, ihre dunklen Augen lächelten ihn an. Er rannte schneller, zu ihr hin, seine Hüften hoben und senkten sich um die Hitze in seinem Ammah …
    Zalman erwachte von der feuchten Wärme auf seinem Schenkel. Regungslos lag er da, während ihm die Texte, die er so gut kannte, durch den Kopfe hallten: … die ihr in der Brunst zu den Götzen lauft unter alle grünen Bäume und schlachtet die Kinder an den Bächen, unter den Felsklippen … Nein, lies nicht shochtay, schlachten, sondern sochtay, fließen lassen. Rabbi Jochanan sagt: Wer seinen Samen unnötig vergießt, verdient den Tod. Zalman zerrte an dem Riemen, der seine Handgelenke aneinanderfesselte. Zürnet ihr, so sündiget nicht. Wie gern hätte er das Gebot befolgt und sich gegen die Brust geschlagen, wären nicht die anderen im Zimmer gewesen. Er drückte die Schnalle ins Kissen, damit sie nicht klappernd ans kupferne Bettgestell schlug, und wickelte erst das eine, dann das andere Handgelenk frei. Hatte er nicht alles in seiner Macht Stehende getan? Weder Brauchtum noch Gesetz schrieben vor, dass er sich die Hände fesselte. Er löste den Gurt, mit dem er sein Bein am Fußende des Bettes festgebunden hatte, damit er sich nicht im Schlaf auf den Bauch drehte und aus Versehen rieb. Dann griff er nach der Waschschüssel. Der klamme Schlafanzug klebte ihm im Schritt.
    Meister des Universums, ich habe es unbewusst getan.
    Er zog das Laken ab.
    Alles Lager, darauf er liegt, und alles, darauf er sitzt, wird unrein werden.
    Er schlich die Treppe hinunter und trat hinaus in die dunkle, enge Gasse. Jede Lamelle der geschlossenen Fensterläden war ein Vorwurf. In der Wüste wäre er aus dem Lager des Heiligtums und dem Lager der Leviten verbannt worden.
    Er drückte die niedrige Tür zur Mikwe auf. Dreimal wollte er untertauchen, dann würde es ihm erlaubt sein, noch am selben Tag wieder die heiligen Bücher zu studieren – neugeboren nach dem dritten Untertauchen.
    Er entkleidete sich. Das Wasser biss an seinen Fußknöcheln, an den Schenkeln; die Kälte ließ seinen Ammah zusammenschrumpfen. Mit ausgebreiteten Armen tauchte er ein und achtete darauf, dass auch seine Schläfenlocken ganz unter Wasser waren.
    Es war im Schlaf passiert, beruhigte er sich. Niemals hätte er sich einer Frau nackt gezeigt, doch er hatte sich auf andere Weise versündigt. Nun bestrafte ihn der Herr dafür. Die anderen Studenten wurden sicher nicht von solchen Träumen heimgesucht.
    Schon als er Gershon mit dem Thorazeiger und dem Talmud-Folianten sah, hätte er fliehen sollen, früher noch, schon beim Anblick der versammelten Schülerschar. Vorsichtig, damit sie nicht über die heiligen Buchstaben kratzte, schwebte die Metallspitze über einer Textzeile und verharrte dann über dem Wort Vater.
    »Nu, Zalman?«, drängten die anderen.
    Zalman konnte nicht widerstehen. »Streit.«
    Gershon hielt den schweren Band hoch, und die Köpfe senkten sich. Alle wollten sehen, welches Wort auf der Rückseite stand, genau dort, wo der Zeiger hindeutete: Streit.
    Schon schwebte der Zeiger über dem nächsten Wort.
    »Und von hier aus zwei Seiten weiter, Zalman?«
    Er hätte es Eitelkeit nennen und sich abwenden sollen, doch er wusste, auf welches Wort zwei Seiten weiter der Zeiger deutete. »Sehet.« Erst als der Zeiger über dem dritten Wort schwebte, machte Zalman dem eitlen Spiel ein Ende, freute sich jedoch noch im Davoneilen über das ehrfürchtige Flüstern seiner Mitschüler.
    Zalmans Kopf tauchte zum Luftholen aus dem Wasser auf, dann ließ er sich ein zweites Mal sinken, tiefer in die Vergangenheit.
    »Sechs Jahre alt, und er kann schon alle Nachkommen Adams bis zu König David aufzählen?«, hatte der Hausierer Ezra ausgerufen. »Wie lautet denn der Name von Adams Nachfahr der zwölften Generation?«
    »Arpachschad.«
    »Und der fünfundzwanzigsten?«
    »Amram.«
    »Es stimmt wirklich, der kleine Stern ist ein Ilui, ein Thora-Wunderkind.«
    Von Bescheidenheit hatte Zalman noch nie gehört. Er krähte den
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