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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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steht, den luftgetrockneten San-Daniele-Schinken und den Rucola. »Das krieg ich nicht runter«, erklärt sie, bevor sie überhaupt probiert hat. Man muss ihr erneut wie einem Kind den Sinn und Zweck der Nahrungsaufnahme auseinandersetzen und ihr klar­machen, dass sie sich schon ein wenig anstrengen muss. Ihr zum wiederholten Male erklären, dass man ihr bei bestimmten Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens behilflich sein kann, wohingegen ihr hier, beim Thema Essen, keiner die Verantwortung abnehmen kann. Sie hört zu und pflichtet mir bei. Kopfnicken. Wird sie die Anstrengung unternehmen? Und es wird anstrengend sein, denn es kostet sie bereits unsägliche Mühe, ihre Gabel zu halten, so rapide schwinden die wundersamen Kräfte, mit denen uns das ­Leben gesegnet hat, dahin.
    Die Hand meiner Mutter bewegt sich bis zum Mund hinauf, einem Mund, den sie nur mit äußerster Vorsicht öffnet, so als handle es sich um eine hauchfeine Membran, von der nur sie allein weiß, wie leicht sie reißen kann. Mühsam beginnt sie zu knabbern, während sie darum ringt, nicht z u sterben – zu sterben, weil sie erstickt, zu sterben, weil sie Schluckauf bekommt, zu sterben, weil sie sich verschluckt hat, den allseits bekannten, sogenannten »San-Daniele-Tod« zu sterben. Absolut wider ihren Willen zu sterben. Während sie mit jener Langsamkeit, wie sie in den Videos bestimmter Künstler zu beobachten ist, kaut, hat sie einen zartgliedrigen, von der Arthrose deformierten, altersfleckigen und dabei erhaben schönen Finger auf ihren Solarplexus gelegt, exakt auf die Stelle, wo der Tod ihr auflauert. Auf einmal verharrt sie so reglos, dass wir uns genötigt sehen, sie bei ihrem Namen zu rufen und uns zu vergewissern, dass sie wirklich noch hier, unter uns weilt. In einer letzten Aufwallung öffnet sie ihren Mund, um ihre abschließenden Worte in diese Welt zu entlassen. Wird sie sie noch aussprechen können, wenn diese viel zitierten wundersamen Kräfte sie verlassen? Ich frage sie, was sie sagen möchte, doch sie vermag weder zu antworten noch sonst wie zu reagieren. »K… Kann n… nicht m… mehr …«, bringt sie schließlich mühsam über die Lippen, worauf ihr Kopf seitlich wegsackt und auf die glückverheißenden Kissen sinkt. Hier geht ein Menschenleben zu Ende.
    Doch kaum ziehe ich ihr das Tablett weg, schwingt sie blitzartig eine flinke Hand empor, um ihr Glas Rosé wieder an sich zu bringen.

I hre Abhängigkeit von mir umschreibe ich als »mir vertrauen«. »Ich bitte dich einfach nur darum, mir voll und ganz zu vertrauen«, wiederholte ich in einem fort, während wir auf den Rollstuhl warteten. Sie wollte ihn nicht ­haben. Mein Bruder und ich hatten immer wieder mit Engelszungen auf sie eingeredet in dem Bemühen, sie von der Idee zu überzeugen. »Ein Rollstuhl, da seh ich ja aus wie eine Behinderte«, erklärte sie bestimmt. »Und, was bist du an­deres als behindert, hm?«, entgegnete mein Bruder, denn ­natürlich eignete ihm jene verzweifelte Unbeholfenheit, die so typisch männlich war. Sie strafte ihn mit finsteren Blicken. Streckte ihm die Zunge heraus, wenn er ihr den ­Rücken kehrte. Und er verließ die Wohnung zutiefst bedrückt, beschämt darüber, dass es ihm nicht gelang, seine Mutter mit positiven Worten zu überhäufen. Doch kaum war er zur Tür draußen und kaum hatte sie ihm – der Form halber – ein letztes Mal die Zunge herausgestreckt, blickte sie zärtlich zum Eingang hin und fragte mich, wann er denn wiederkäme, ihr geliebter Goldjunge, und ob ich auch nett zu ihm sei.
    Der Rollstuhl war eingetroffen, und sie war verängstigt. Ich dachte zunächst, der Auslieferer, der beim Entfernen der Plastikfolien fröhlich vor sich hin geträllert hatte, sei schuld daran. Doch als der Mann fort war, saß sie weiterhin seltsam gespreizt auf ihre Ellbogen gestützt, wie ein verschüchtertes Schulmädchen. Ich schob den Rollstuhl an ihr Bett, entschuldigte mich dafür, dass er schwarz war, versprach, alsbald einen Überzug zu besorgen, in Ecru, darauf gab ich ihr mein Wort, und wies im Übrigen auf die helle Seitenfläche der Reifen hin. Sie musterte nachdenklich den Gegenstand, dessen Vorzüge ich ihr hier anpries. Ich setzte mich hinein und wirbelte ein paarmal im Zimmer herum. Kurzum, ich gab mein Bestes, um ihr zu beweisen, wie herrlich das Leben mit diesem Stuhl sein würde.
    »Wir werden sehen …«, lenkte sie schließlich ein.
    Beim Verabschieden hielt ich ihr dann noch einmal vor Augen, wie stolz ihr
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