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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Prolog
     
     
     
    »Ihr solltet beide tot sein!«
    Die Stimme klang leise an mein Ohr, trotzdem war sie klar und deutlich zu verstehen. Sie kam mir bekannt vor, doch es wollte mir nicht gelingen, sie einer Person meiner Erinnerung zuzuordnen. Der Schock über den Unfall lähmte meinen Verstand. Seit mein Schädel dem Stopp-Schild begegnet war, tobte ein Donner hinter meinen Schläfen. Und da war noch etwas, was mir das Denken schwer machte: der kurze Hauch des Todes, der mich gestreift hatte.
    »Denn ihr habt mich belogen!«, schimpfte die Stimme.
    Ich konnte nicht anders. Ich hob meinen Kopf. Erneut jagte der heiße Schmerz durch meinen Nacken und von dort durch meinen ganzen Leib. Doch ich ignorierte den wütenden Protest, drehte den Kopf in Richtung der Stimme.
    »Du bist schuld an ihrem Tod!«
    Ich weiß nicht, wen ich zu sehen erwartete. Meinen gütigen Engel? Die blonde Frau mit der weißen Kleidung, auf deren Jacke ein kleines rotes Kreuz eingestickt war, hatte sich längst von mir abgewandt, ebenso wie die Schaulustigen. Sie drängten sich einige Meter entfernt um etwas, das sie mit ihren Schuhen, Stiefeln, Röcken und Hosen vor meinen Blicken verbargen.
    Ein Stück weiter, jenseits der Straße, verbarg sich eine Gestalt unter den Bäumen. Obwohl die Augen des Mannes in den düsteren Schatten der Äste und Blätter verborgen lagen, spürte ich, wie er die Pupillen auf mich richtete. Er interessierte sich nicht für das dramatische Geschehen am Unfallort. Er brauchte nicht hinzuschauen, weil er ganz genau wusste, was dort geschah. Doch woher?
    Ich vergaß die Frage. Ein Gesicht schob sich in mein Blickfeld. Es war mein Vater, der neben mir kniete. War er es, der zu mir gesprochen hatte? Aber wieso hätte er solche Dinge sagen sollen?
    Die Notärztin erhob sich und löste sich aus der Menschenmenge. Mit einer enttäuschten Handbewegung wischte sie sich den Straßendreck von der Hose. Sie sah meinen Vater an. Dann schüttelte sie den Kopf.
    »Wo ist Mama?«, presste ich über meine Lippen.
    Mein Vater lächelte gequält. Ich wiederholte meine Frage. Er antwortete nicht. Der traurige Blick der Notärztin, der mich streifte, war Antwort genug. Der Schmerz, der jetzt über meinen Leib hinwegfegte, war schlimmer als jede physische Pein.
    Auf einmal stellte sich auch die Erinnerung an den Stoß, den jemand mir verpasst hatte, wieder ein. Mir und meiner Mutter.
    Mit rudernden Armen stolperte ich über die Straße, griff nach einem Halt, der nicht an meiner Seite war. Ein Wagen nahte. Ein Ford, dessen Scheinwerfer mich wie die Augen eines Wahnsinnigen fixierten.
    Plötzlich stießen mich Hände energisch beiseite. Ich stolperte, blickte überrascht zurück. Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wie die Stoßstange erst meinen Retter erwischte, dann meine Mutter, die noch immer auf dem staubigen Asphalt kniete, wohin man sie gestoßen hatte. Für sie kam jede Rettung zu spät.
    Die Wahrheit war: Meine Mutter war ermordet worden. Und ich hatte mit ihr sterben sollen. Mein Vater wusste das. Doch wie konnte er behaupten, ihr Tod sei meine Schuld? Ich war doch noch ein Kind.
    Eine Stimme wisperte: Es geht immer nur um die Kinder.
    Auch diese Stimme war mir wohlbekannt. Doch der tiefere Sinn ihrer Worte wollte nicht mehr zu mir durchdringen. Eine gewaltige Explosion betäubte mein Trommelfell. Dem Knall folgte ein rasender Sturm. Ich spürte mörderische Hitze, ein Höllenfeuer, das mich verzehrte und vor dem es kein Entrinnen gab. Ich ließ meinen Kopf zurück auf den Asphalt sinken. Sollte der Tod mich doch holen. Ich hatte ihn verdient. Denn auf einmal fühlte ich mich tatsächlich schuldig.

Sonntag
     
     
     
    Berlin
     
    »Ich bin schwanger.«
    Chris’ Worte lagen im Raum wie ein Paar zu großer Schuhe, die sie Philip zugeworfen hatte, in der Hoffnung, sie passten ihm vielleicht. Doch dessen Blick wanderte verwirrt zum Fenster.
    Inzwischen war der Sonntag angebrochen. Die wohl schlimmste Woche in Philips Leben verabschiedete sich auf leisen Sohlen. Doch ein Ende des Winters war nicht in Sicht. Die Kälte verwandelte die kahlen Bäume in fahle Skelette, gefror den Schnee auf den Gehwegen und Straßen zu einem halsbrecherischen Parcours. Selbst die Luft schien unter dem Frost zu einer eisigen Nebelwand zu erstarren.
    Das Wort schwanger dagegen wollte in Philips Schädel alles andere als greifen. Er hatte mit vielem gerechnet. Zum Beispiel einem handfesten Streit. Einer Trennung. Oder aber der Versöhnung. Es gab
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