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Reifezeit

Reifezeit

Titel: Reifezeit
Autoren: Sophie Fontanel
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stehe nun da und nenne die Dinge beim Namen, denn in diesem Fall geht es ums Geld – und da teile ich die schnöde Mentalität der Lebenden.
    Neuer Tag, neue Dummheit: Sie genehmigt sich um sieben Uhr morgens einen Pastis, um sich dem lästigen Zustand des Erwachens zu entziehen. Er stand noch auf dem Rollwagen neben ihrem Bett, nachdem sie am Abend zuvor vergessen hatte, ihn zu trinken. Man hilft ihr, aus dem Bett aufzustehen, und sie stürzt. Beschwipst.
    Ein andermal lässt sie ein und derselben Person drei Mal hintereinander das Neujahrsgeschenk zukommen. Immerhin tausend Euro.
    Und jedes Mal wieder fragt sie betroffen: »Habe ich etwa eine Dummheit begangen?«, um es dann mit selig verklärter Miene über sich ergehen zu lassen, dass man ihr die Leviten liest. Denn die Vorstellung, dass sie, eingeschränkt, wie sie ist, in ihrer Bewegungsfreiheit, imstande ist, solch denkwür dige Schoten zu liefern, scheint meine Mutter zunehmend zu erheitern.

N un, da sie so vieles vergisst, kann sie die Freuden, die unerwartete Ereignisse mit sich bringen, in vollen Zügen genießen. Ich kündige ihr an, dass ich komme, und dann komme ich, aber sie hat schon wieder vergessen, dass ich komme, und es fehlt nicht viel, dass sie vor Begeisterung in die Hände klatscht. Jeder Besuch ist ein Geschenk des Himmels. Jede Begegnung mit einem anderen Menschen die erste. Jede Sorte Salzgebäck eine Leckerei, die es zu kosten gilt. Die Art und Weise, wie eine Blüte ihre Blätter öffnet: ­etwas nie Dagewesenes. Die Art und Weise, wie die Sonne sie an den Füßen kitzelt: ein Wunder. »Was meinst du, ist es nicht trotzdem absolut beglückend, dass man nicht mehr so ganz den Überblick hat?«, fragt sie mich. Doch wer ist dieses Genie, das mich hier das Leben lehrt? Ich gelange letztlich zu dem Schluss, dass erst die Unbeweglichkeit den Menschen Flügel verleiht. Wenn man sieht, wie hektisch sich die anderen abstrampeln, ohne etwas zu begreifen. Natürlich wird ihre Sorglosigkeit nur möglich durch eine gesteigerte Verantwortlichkeit meinerseits, denn ich bin diejenige, die an die Kleinigkeiten und das Selbstverständliche denken muss. Und ich akzeptiere das. Sie hat mir dieses Geschenk gemacht, als ich ein Kind war: mir die Last des Alltäglichen abzunehmen. Wie von Wunderhand hingezaubert standen plötzlich köst­ liche Pommes frites vor mir. Und auch das kostspielige ­ Geschenk, von dem ich ohne rechte Hoffnungen geträumt hatte, da ich wusste, wie teuer es war, lag an Weihnachten ­unter dem Baum. Wenn ich mein Bett satteln wollte, um es in einen Fuchshengst zu verwandeln, besorgte sie das Leder. Auch den Hafer hätte sie herbeigeschafft, wenn mich das glücklich gemacht hätte. Und, wenn sie über die nötigen ­finanziellen Mittel verfügt hätte, sogar das komplette Pferd. Ja, sie sorgte dafür, dass meine Kindheit eine echte Kindheit war. Jetzt kann ich mich gut und gern revanchieren.
    »Das Unerwartete«, sagt sie, »ist sehr wichtig. Ihm ist es zu verdanken, dass man sich verliebt. Ganz unversehens, klick, erkennt man einen Menschen.« Man meint immer, dass ­ältere Leute etwas gegen das Neue, Unbekannte haben; doch es sind die Veränderungen, die sie nicht mögen. Sie hegen ein Misstrauen gegen Wandel und Bewegung in ihrem eigenen Dasein. Und wer würde schon gern »noch ein Stückchen« weitergehen, wenn er bereits am Rande des Abgrunds steht? Aber die Lebendigkeit der anderen, die sich Bahn bricht, ja, die begeistert sie. Mich möchte sie sich verändern sehen. Sie nimmt mich ins Gebet, wenn ich nichts Neues in mir aufkeimen lasse. »Verrenn dich nicht hartnäckig in ­etwas, was nicht funktioniert. Erlaube mir, dir zu sagen, dass du zuweilen eine wahre Leichenbittermiene zur Schau trägst. Wie bleiern und schwerfällig du so wirkst. Und gestatte mir die Bemerkung, dass es Tage gibt, an denen ich dich zu strebsam und beflissen finde. Man könnte meinen, eine Witwe mit Bildung. Wer hätte schon Lust, einer Witwe mit Bildung etwas Neues zu zeigen? Es steht alles irgendwo geschrieben, meine Liebe. Aber man sollte sich nicht zu sehr darum bemühen, alles zu lesen, denn sonst, Vorsicht, ist man nicht mehr offen für unerwartete Besucher in seinem Haus.«

G anze Wochen, in denen sie keinen rechten ­Appetit mehr hat.
    Sie hat sich so richtig schön bequem in ihrem Bett eingerichtet, rundum gestützt von ihren goldgelben Bouretteseidenkissen, und hat keinen Hunger. Voller Abscheu mustert sie das Tablett, das auf ihrem Bauch
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