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Gefaehrtin Der Daemonen

Titel: Gefaehrtin Der Daemonen
Autoren: Marjorie M. Liu
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    M eine Mutter pflegte immer zu sagen, die Geschichte der Welt sei mit Blut geschrieben, und zwar mit dem Blut jenes Fleisches, in dem sich die Venen des Schicksals wie die Zweige des Baumes verästelten, an dem der Apfel hing und wo sich die Schlange wand, um die Unschuldigen mit ihrem Flüstern ins Verderben zu locken. Gut und Böse, Geist und freier Wille. Dort, an der Wurzel der Geschichte, da würde die Welt einst in den Abgrund trudeln.
    Geschichte besteht aus Legenden. Legenden aber sind Blut. Und ich bin vollkommen am Ende.
     
    Meine Mutter wurde an meinem einundzwanzigsten Geburtstag ermordet.
    Es geschah mitten in der Nacht. Sie hatte mir gerade einen Kuchen gebracht. Noch während ich die Kerzen ausblies, starb sie. Jemand hatte ihr mit einem Gewehr den Kopf weggeblasen, durch das Küchenfenster hindurch. Ich aber kam ohne einen Kratzer davon. Ich glaube, ich war für ihren Tod ebenso verantwortlich wie der Zombie, der abgedrückt hatte. Doch versuchte ich, gar nicht erst darüber nachzudenken.
    Seitdem bin ich immer unterwegs gewesen. Ohne Zuhause, ohne Wurzeln. Nur die Jungs und ich. Auch sie trugen einen
Teil der Schuld. Vielleicht sogar die gesamte. Aber sie zu hassen, das hätte doch bedeutet, mich selbst zu hassen. Und das hätte meine Mutter nicht gewollt.
    Wie gesagt, ich versuche nicht darüber nachzudenken.
    Es war ein regnerischer Abend in Seattle. Irgendwo in dem Nieselregen ging die Sonne unter. Dies war die beste Zeit des Tages, oder auch die schlechteste - kam drauf an, wo ich gerade war. Im Augenblick schien es eher ungünstig zu sein. Ich spürte, wie die Sonne unterging, weil sich die Tattoos gerade von meiner Haut schälten. Ich saß fest, wusste nicht mehr, wo ich mich noch verstecken konnte. Da stand ich in den Arkaden des Pike Place Market, im überfüllten ersten Stock, nur einen Schritt von dem regennassen Kopfsteinpflaster und dem zähen Verkehr auf der First Street entfernt. Unter meinen Füßen vibrierte es: Durch die Untergeschosse des Marktes, tief im Berg, hallten die Schritte der Touristen und der Einheimischen. Um die Stände der Antiquitätenhändler, der Comicverkäufer und dann auch um die der Bauern, der Handwerkskünstler und der Kitschhändler herum murmelten vielerlei Stimmen. Eine Mischung, die auch Sehnsucht hätte auslösen können. Nur hatte dieses Gefühl im Moment überhaupt keinen Platz in mir.
    Schuld daran waren die Zombies. Sie umringten mich, atmeten mir in den Nacken - und freuten sich nicht gerade, mich zu sehen.
    Auch die Zombies mischten sich in das Gewühl der Touristen, das genauso vielfältig wie trügerisch wirkte. Zum Beispiel gab es da diese alte Frau mit der auffällig bestickten Jacke, dann Männer mit Bierbäuchen und Gürteltaschen, eine Studentin, der ständig die Brille von der fettigen Nase rutschte. Einige wirkten ordentlich und anständig, andere dagegen waren einfach schrecklich: zum Beispiel der dürre blonde Junge mit dem hohlen Blick. Er musste doch der reine Schrecken sein. Die tiefen
Schatten unter den Augen seiner Mutter ließen jedenfalls darauf schließen. Hoffentlich hatte sie alle scharfen Gegenstände sicher weggeschlossen.
    Insgesamt zählte ich zehn Zombies, aber es konnten auch mehr sein. Die meisten von ihnen beobachteten mich aus den Augenwinkeln, warfen mir verstohlene Blicke zu. Einige wenige hatten auch den Mut, mir in die Augen zu sehen. Meinem Blick hielten sie jedoch nicht lange stand.
    Zombies nannte ich sie nur, weil ich das Wort mochte, nicht aber weil es wirklich welche waren. Das war ein Spiel aus alter Zeit, als meine Mutter mir sagte, ich sollte den Myriaden an Geistern und Dämonen, die durch den Gefängnisschleier auf diese Welt gekommen waren, Namen geben.
    Gibst du etwas einen Namen, so gewinnst du auch Macht darüber. Gib ihm also einen Namen und - vernichte es.
    Zombie ging mir leicht über die Lippen. Ich war zehn. Es war Halloween. Ich hatte ein Buch mit Gruselgeschichten und ging darin die Liste durch. Die Zombies waren hier genauso leicht zu erkennen wie im Film. Schattenhafte Kronen flackerten über ihren Köpfen. Dunkle Auren: Das war die einzige Möglichkeit festzustellen, ob ein Mensch besessen war. Rein äußerlich sahen Zombies ganz normal aus, alltäglich. Lebendig und menschlich. Auch wenn mir George Romeros Filme sehr gut gefielen, meine Zombies waren keine lebenden Leichen. Sie stiegen auch nicht aus Gräbern, verrotteten nicht allmählich, stanken weder noch stolperten sie über ihre
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