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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers
Autoren: Jaume Cabré
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    Erst gestern Abend, als ich durch die regennassen Straßen von Vallcarca spazierte, wurde mir bewusst, dass es ein unverzeihlicher Fehler war, in diese Familie hineingeboren zu werden. Plötzlich erkannte ich: Ich war stets allein gewesen, hatte mich nie auf meine Eltern oder einen Gott verlassen können, die mir die Suche nach Lösungen abgenommen hätten, wenngleich ich mir als Jugendlicher angewöhnt hatte, die Last des Denkens und die Verantwortung für meine Taten auf einen vagen Glauben und die verschiedensten Lektüren abzuwälzen. Gestern Abend, als ich nach meinem Gespräch mit Doktor Dalmau im Regen nach Hause ging, kam ich zu dem Schluss, dass ich diese Last ganz allein tragen muss. Niemand außer mir ist für die Erfolge und Misserfolge in meinem Leben verantwortlich. Sechzig Jahre habe ich für diese Erkenntnis gebraucht. Ich hoffe, du verstehst mich und merkst, wie schutzlos und einsam ich mich fühle und wie schrecklich ich dich vermisse. Trotz allem, was uns trennt, dienst du mir als Beispiel. Trotz meiner Panik will ich von nun an ohne Rettungsplanke durch die Fluten treiben. Trotz einiger Fingerzeige habe ich noch immer keinen Glauben, keinen Priester, keine allgemeingültigen Codes, die mir meinen Weg ins Ungewisse ebnen könnten. Ich fühle mich alt, und der Sensenmann winkt mir, ihm zu folgen, er hat den schwarzen Läufer gerückt und bedeutet mir nun mit einer höflichen Geste, dass ich am Zug bin. Er weiß, dass mir kaum noch Bauern bleiben. Immerhin: Noch ist nicht morgen, und ich überlege, mit welcher Figur ich ziehen kann. Ich sitze allein vor dem Blatt Papier, meiner letzten Chance.
    Vertrau mir nicht zu sehr. Aufzeichnungen wie diese – für einen einzigen Leser verfasste Memoiren – sind anfällig für Lügen, und ich weiß, ich werde versuchen, immer auf allen vieren zu landen wie die Katzen; trotzdem will ich mich bemühen, nicht allzu viel zu erfinden. Alles war genau so oder noch schlimmer. Ich weiß, dass ich es dir schon viel früher hätte erzählen sollen; aber es ist schwierig, und selbst jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.
    Im Grunde genommen begann alles vor mehr als fünfhundert Jahren damit, dass ein verzweifelter Mann um Aufnahme ins Kloster Sant Pere de Burgal bat. Hätte er das nicht getan, oder hätte ihm der Prior Dom Josep de Sant Bartomeu die Aufnahme verweigert, dann würde ich dir jetzt nicht all das berichten, was ich berichten will. Aber so weit kann ich nicht zurückgehen. Ich fange später an. Viel später.
    »Dein Vater …, hör zu, mein Sohn …, dein Vater …«
    Nein, nein: Auch hier will ich nicht anfangen. Besser, ich beginne mit dem Arbeitszimmer, in dem ich vor deinem eindrucksvollen Selbstbildnis sitze und schreibe. Dieses Arbeitszimmer ist meine Welt, mein Leben, mein Universum, in dem fast alles Platz hat außer der Liebe. Als ich noch mit kurzen Hosen herumlief und im Herbst und Winter Frostbeulen an den Händen hatte, durfte ich es nur zu ganz bestimmten Zeiten betreten. Oder aber ich schlich mich heimlich hinein. Ich kannte jede Ecke und jeden Winkel, und einige Jahre lang unterhielt ich hinter dem Sofa ein sicheres Geheimversteck, das ich allerdings nachher jedes Mal aufräumen musste, damit Lola Xica es nicht beim Staubwischen entdeckte. Wenn ich das Zimmer offiziell betrat, musste ich mich benehmen, als wäre ich zu Besuch, und die Hände auf dem Rücken halten, während mein Vater mir das neueste Manuskript zeigte, sieh nur, das habe ich in einem Trödelladen in Berlin gefunden, und lass bloß deine Finger bei dir, dass ich nicht wieder mit dir schimpfen muss. Neugierig beugte sich Adrià über das Manuskript.
    »Das ist Deutsch, oder?« Unwillkürlich streckte er die Hand aus.
    »Na, na, na, da schaut wieder einer mit den Fingern.« Der Vater schlug ihm auf die Hand. »Was hast du gesagt?«
    »Ob das Deutsch ist.« Adrià rieb sich die schmerzende Hand.
    »Ja.«
    »Ich möchte Deutsch lernen.«
    Fèlix Ardèvol betrachtete seinen Sohn voller Stolz und sagte, bald kannst du damit anfangen, mein Sohn.
    Eigentlich war es gar kein Manuskript, sondern ein Stapel vergilbter Blätter, auf deren Titelseite in altertümlicher Schrift stand: Der begrabene Leuchter. Eine Legende.
    »Und wer ist Stefan Zweig?«
    Vater, der gerade eine Randkorrektur neben dem ersten Absatz unter die Lupe nahm, antwortete mir nicht etwa, ein Schriftsteller, mein Sohn, sondern erwiderte nur zerstreut, ach, das ist irgend so ein Kerl, der sich vor zehn oder
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