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Puppenspiele

Puppenspiele

Titel: Puppenspiele
Autoren: Marina Heib
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ersten Befundes. Er schickte zwei Beamte zur Zentrale der Post, um eventuell etwas über den Auftraggeber der Lieferung herauszufinden. Die Chancen waren gering. Striebeck ging nicht davon aus, dass der Mörder so blöd gewesen war, seinen Auftrag mit korrektem Absender zu versehen. Aber jede noch so unbedeutsam scheinende Information konnte wichtig sein. Und mit viel Glück erinnerte sich irgendjemand an den Mann mit der auffallend großen Holzkiste und konnte eine Beschreibung abgeben. Ali setzte er auf den Fahrer an, der die Kiste geliefert hatte. Er sollte ihn auftreiben und ohne Vorwarnung seine Fragen stellen. Eine gute Stunde später war Ali zurück. Aus dem geschockten Fahrer war keinerlei verwertbare Information herauszuholen gewesen. Er war lediglich mit dem Grauen beschäftigt, den halben Tag unwissentlich eine Frauenleiche in seinem Lieferwagen quer durch Berlin chauffiert zu haben, bis er sie laut Tourplan schließlich bei Madame Tussauds abgeliefert hatte.
     
    Es war kurz nach neun Uhr abends, als Christian, Herd und Volker in Berlin eintrafen. Sie hatten den Zug genommen. Die Bahn war auf der Strecke Hamburg – Berlin schneller als jedes Auto, selbst wenn Verkehrsrowdy Volker am Steuer gesessen hätte. Am Lehrter Bahnhof trafen sie sich mit Karen Kretschmer, die sich wegen eines Ärztekongresses in der Hauptstadt befand. Karen, eine vierunddreißigjährige Hamburger Rechtsmedizinerin, arbeitete seit Jahren mit Christians Soko zusammen. Sie war am Institut für Rechtsmedizin der Hamburger Universitätsklinik angestellt, konnte sich aber je nach Bedarfslage von ihren alltäglichen Arbeiten befreien lassen, um ausschließlich Christian und seinen Spezialfällen zur Verfügung zu stehen. Die Soko schätzte Karens Arbeit über alle Maßen, denn sie war nicht nur eine extrem konzentrierte Medizinerin, der kein noch so winziges Detail entging. Sie hatte auch ein Gespür für – wie Karen es gerne nannte – die »Seele eines Verbrechens«, die sie aus den geschundenen Körpern der Opfer herauslas wie aus einem geöffneten Buch. Außerdem sah sie atemberaubend gut aus mit ihren hüftlangen goldblonden Haaren, der perfekten Figur und den ebenmäßigen Gesichtszügen einer klassischen Schönheit. Christian und sein Team amüsierten sich jedes Mal, wenn Kollegen aus einer anderen Stadt Karens Bekanntschaft machten und ihren ganzen Charme aufboten, um sie zu beeindrucken. Was stets gründlich schiefging. Karen ließ alle Bewerber unterkühlt abperlen oder machte sich einen Spaß daraus, sie mit ihrem grenzwertigen Pathologenhumor abzuschrecken. Manch junger Polizist war schon kotzend aus Karens gekacheltem Obduktionsraum gerannt, weil sie ihm plötzlich blutige Innereien unter die Nase gehalten hatte.
    Zu viert zwängten sie sich in ein Taxi vom Lehrter Bahnhof zur Prachtallee Unter den Linden. Unterwegs informierte Volker Karen über die wenigen Details des Falles, die ihnen bislang bekannt waren. Als sie bei Madame Tussauds ankamen, ging gerade die Julisonne hinter dem Brandenburger Tor unter. Das Berliner Wahrzeichen leuchtete vor kobaltblauem Himmel. Die Quadriga, im Berliner Volksmund »Retourkutsche« genannt, wurde von der Westseite her rotgolden angestrahlt und wirkte von der Ostseite wie ein mächtiger Schattenriss von vergangenem Glanz und Gloria.
    Ein Beamter nahm die Gruppe in Empfang und führte sie zum Ort des Geschehens, wo Striebeck müde auf sie wartete. Christian und er begrüßten sich wortkarg, aber respektvoll. Dann stellten beide ihre Mannschaft vor. Striebecks Spurensicherung unterbrach ihre Arbeit und zog sich bis auf Weiteres zur Zigarettenpause auf den Hof zurück, wo sich eine junge, noch unerfahrene Staatsanwältin übergab, die selbst erst vor einer halben Stunde am Fundort eingetroffen war.
    Wie immer hielt sich Christian nicht lange mit Freundlichkeiten auf. Mit langsamen Schritten näherte er sich der Kiste. Die Leiche der jungen Frau war unangetastet. Die Klarsichtfolie lag zusammengeknittert wie achtlos aufgerissenes Geschenkpapier zu ihren Füßen. Christian nahm zuerst den Gesamteindruck des Bildes in sich auf und speicherte ihn ab, mitsamt den noch undefinierbaren Gefühlen, die das Arrangement hervorrief. Er hatte schon vieles in seinem Leben gesehen. Vergewaltigte und zerstückelte Frauen. Missbrauchte Kinder. Zu Tode Gefolterte. Viele seiner Kollegen ertrugen ihren Beruf nur, wenn sie die Leichen emotionslos als Spurenträger betrachteten. Er konnte das nicht. Er sah
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