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Puppenspiele

Puppenspiele

Titel: Puppenspiele
Autoren: Marina Heib
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Fahrers verschwand bei einem Blick auf die Uhr. »Jetzt unterschreib mal, ich hab heute noch jede Menge Touren vor mir.«
    Kalle kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf. »Das ist bestimmt für London. Die haben dort so ’ne Art Folterkammer.«
    »Ruf doch ma oben an«, riet Chico. Kalle schlurfte zum Telefon. Er sprach kurz mit der Verwaltung und kam dann zur Rampe zurück. Die Kiste stand immer noch da, aber Lieferwagen und Fahrer waren weg.
    »Hast du quittiert?«, fuhr Kalle seinen Kollegen scharf an.
    »Mann, der Typ musste weg. Was hat der Chef denn gesagt? Nicht annehmen?«
    »Annehmen. Gucken, was drin ist.«
    »Na, also«, grinste Chico. »Alles richtig gemacht.«
    »Eben nicht! Du hast kein Recht zu quittieren, das mach ich, klar?!«
    Chico nickte devot. Immerhin war Kalle schon sechzehn Jahre in dem Laden. Chico hingegen war erst ein knappes Jahr da, hatte also ganz klar die Fresse zu halten. Er holte eine Sackkarre, mit der sie die große Kiste vorsichtig nach hinten in den Lagerraum brachten.
    Kalle griff zu einem Brecheisen, Chico tat es ihm nach. Mit gewohnter Umsicht lösten sie die vordere Holzfront aus ihrer Vernagelung. Jede Menge Putzwolle kam ihnen entgegen. Sie nahmen das Dämmmaterial weg und besahen sich die in Klarsichtfolie eingepackte Figur, die zum Vorschein kam. Es war eine junge Frau in sitzender Stellung, mit feinen Drähten auf einen Stuhl fixiert. In ihrer linken Hand hielt sie eine Spiegelscherbe. Die Figur war komplett nackt, hatte keinerlei Körperbehaarung appliziert und trug auch keine Perücke. Das einzig Auffallende an ihr war eine große, wulstige rote Narbe in der Herzgegend mit schwarzen Fäden darin vom Zusammennähen. Ansonsten war sie weiß, ganz weiß, von Kopf bis Fuß mit Theaterschminke bedeckt. Sie sah unwirklich aus, nicht wie ein Mensch, sondern eher wie die einfallslose Vision eines Aliens aus einem zweitklassigen Hollywoodfilm.
    »Die ist garantiert für London, so was brauchen wir hier nicht. Außerdem ist sie nicht gut gemacht. Sieht nicht echt aus. Die Haut ist viel zu kalkig. Und die Augen sind total glasig. Zeig ma den Lieferschein, wer schickt denn so ’n Mist?«, sagte Kalle. Chico reichte ihm den Zettel.
    »Was ist das denn für ein Chaos?« Kalle schüttelte den Kopf. Das hatte er in sechzehn Jahren noch nicht erlebt. Kein Absender, nur ein Vermerk mit »Spende«. Kalle stand kopfschüttelnd vor der Figur und blickte sie ratlos an. »Was machen wa jetzt damit? Ich ruf ma den Chef runter.«
    Auch Peter Jensen, der Verwaltungschef von Madame Tussauds, stand ratlos da, sowohl vor der Figur als auch vor dem Lieferschein. Er wollte schon wieder nach oben gehen, um London anzurufen und nachzufragen, als Chico innerhalb der Klarsichtfolie zu Füßen der Figur einen Umschlag entdeckte.
    »Guck ma, Chef, da is noch ’n Lieferschein!« Gemeinsam mit Kalle entfernte er vorsichtig die Folie von der Figur. Die Folie knisterte, als würde man einen Blumenstrauß auswickeln. Kalle und Chico arbeiteten sich von oben nach unten vor. Aus der Folie waberte ein leichter Geruch von Konservierungsmittel.
    Chico drehte angewidert den Kopf weg. »Was war ’n das für ’n Amateur? Die stinkt!«
    Beim Auswickeln streifte Kalle mit seiner Hand den wächsernen Oberschenkel des gelieferten Ausstellungsstückes. Erschrocken fuhr er zurück. Weit zurück. Kalle fing an zu zittern.
    Chico bemerkte das und beruhigte ihn sofort: »Hast nix kaputt gemacht, alles noch dran an der Puppe.«
    Doch Kalle schüttelte den Kopf und starrte die Figur an. »Nee, Scheiße, Chico, halt die Fresse! Scheiße, Chef! Nee, nee! Scheiße! Die ist echt! Die Puppe ist echt! Das ist kein Wachs, ganz sicher nicht! Das is ’ne Leiche, Leute!«
    Chico erblasste sichtlich unter seiner künstlich gezüchteten Bräune. Dem Impuls der Neugier folgend, streckte er die Hand aus. Seine Fingerspitzen näherten sich dem nackten Schenkel der Frau.
    »Nicht anfassen!«, zischte Jensen entsetzt.
    Diese Warnung war unnötig. Chicos Hand stoppte etwa drei Zentimeter bevor seine Fingerspitzen die Haut hätten berühren können. Seine Hand war wie in der Luft fixiert, ganz so als umgäbe eine Art Kraftfeld die Frau, das nicht zu durchdringen war. Die Aura des Todes. Chicos Hand fing leicht zu zittern an, und Kalle bemerkte, wie sich die schwarzen Haare auf Chicos Unterarm aufrichteten. Kalle legte beruhigend seine Hand auf Chicos ausgestreckten Arm. Erst jetzt konnte Chico ihn wieder senken.
    »Bist du sicher, Kalle?«,
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