Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ploetzlich Shakespeare

Ploetzlich Shakespeare

Titel: Ploetzlich Shakespeare
Autoren: David Safier
Vom Netzwerk:
«Mal sehen, ob du dich auch noch so amüsierst, wenn du fällst.»
    Er trat mir auf die Finger. Ich schrie sofort auf, und jeder andere in so einer Situation hätte auf der Stelle losgelassen. Aber ich wollte noch bei William bleiben, so hielt ich den Schmerz aus. Fürs Erste. Dies beeindruckte Drake, er nahm seinen Fuß weg und erklärte: «Du bist also doch ein Mann. Und keine Maus.»
    «Weil dieser Mann eine Frau ist!», erklärte ich, stolz auf Rosa.
    Komisch, dass man sich in einer solchen Situation so sehr geschmeichelt fühlen konnte ... Mein Blick fiel nach unten, die Soldaten wuselten aufgeregt am Fuße des Mastes herum, keine Ahnung, was sie da taten. Dies war auch nicht mehr wichtig, es galt, die letzten Sekunden mit Shakespeare zu nutzen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte ich ihm meine Gefühle gestehen? Aber was war, wenn er sie nicht erwidern würde? Dann würde ich die letzten Momente meines Lebens unter Liebeskummer leiden. Wollte ich mit diesem widerlichsten aller Gefühle sterben?
     
    Sollte ich Rosa meine Liebe gestehen ? Nein, dies war Wahnsinn. Wir würden gleich sterben, und ich sollte sie mit meinen lächerlichen Gefühlen belasten? Unfassbare Schmerzen durchjagten meinen Körper, die Rosa aber statt meiner durchleiden musste. Ich hätte alles auf der Welt dafür gegeben, um an ihrer Stelle zu sein, ihr die Pein abzunehmen. Aber dies war schier unmöglich. So entschied ich mich, sie in unseren letzten Sekunden auf Erden von ihrem Leid abzulenken, und begann zu diesem Zwecke möglichst munter mit ihr zu plaudern. Daher fragte ich: «Was ist ein Schwulenporno?»
    «Etwas, was Queren große Freude bereiten würde», ächzte ich als Antwort, während meine Finger langsam, aber sicher erlahmten.
    «So viel wie dir das Bidet?», schmunzelte ich.
    «Ja», ich musste wieder lachen, und das lenkte mich von den Qualen ab.
    «Dann sollten wir das Kloster von Lorenzo damit ausstatten », schlug ich vor. « Vielleicht auch mit Bidets.»
    Ich lachte noch mehr und vergaß darüber den Schmerz. Shakespeare tat mir selbst in dieser furchtbaren Situation noch gut.
    Doch meine vermeintlichen Selbstgespräche und mein Gelächter machten Drake jetzt sichtlich nervös.
    «Du gehst mir langsam auf den Geist», schimpfte er und trat zornig auf meine Hand. Härter. Brutaler. Und ich schrie wie am Spieß.
     
    Rosas Schrei zerriss mir das Herz, obwohl ich es, mein Herz, gerade nicht selbst besaß.
     
    Ich konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Keine Ahnung, ob meine Finger schon gebrochen waren. Aufgeben wollte ich jedenfalls nicht. Doch Drake trat erneut zu. Diesmal hatte ich schon gar keine Kraft mehr zum Schreien, und mir wurde schwarz vor Augen. Es war so gut wie unmöglich, sich noch länger zu halten.
    «Lass los, Rosa... quäl dich nicht länger», flehte ich. Dass ich in diesem Fall sterben würde, war mir einerlei. Ich wollte nicht, dass Rosa noch länger so unmenschlich litt.
    Ich ließ nicht los ... aber es tat weh ... so sehr weh.
    «Bitte...», flüsterte ich.
    «Ich will nicht, dass du wegen mir stirbst, William», weinte ich nun. Ich konnte nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen. «Rosa...»
    Ich hielt mich weiter am Holz fest, während die Tränen über mein Gesicht flössen.
    «Ich erlaube es dir...», erklärte ich sanft.
     «Nein...»
    «Du darfst loslassen...», bekräftigte ich.
    Doch ich hielt mich, so lange, wie es nur irgendwie ging. Sogar noch ein bisschen länger. Aus Liebe zu Shakespeare. Doch schließlich konnte ich nicht mehr. Ich flüsterte: «Es tut mir leid... so leid...»
    «Dies muss es nicht», antwortete ich liebevoll.
    Und so bestärkt von Shakespeare, ließ ich los.
     

62
    Das Letzte, was ich von Drake hörte, als meine Finger vom Holz glitten, war: «Das wurde ja auch langsam mal Zeit.»
    Zeit, das wusste ich dank meiner Rückführung wohl mehr als jeder andere - selbst als Einstein -, war eine relative Sache. Sie konnte sich in gewissen Situationen ins Unendliche dehnen. Dies merkten Patienten bei der Darmspiegelung genauso wie Frauen bei schlechtem Sex oder die Zuschauer von experimentellem Tanztheater.
    Und dies erlebte jetzt auch ich: Während ich nach unten sauste, befand ich mich in einer anderen Sphäre des Bewusstseins. Durch die gedehnte Zeit fühlte sich der Fall an wie ein schöner leichter Segelflug. Alle Schmerzen wichen von mir, und die Verzweiflung verließ meine Gedanken. Ich musste nicht mehr weinen, und fast hätte ich diesen Sturz sogar genießen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher