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Der zeitlose Winter

Der zeitlose Winter

Titel: Der zeitlose Winter
Autoren: James A. Owen
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PROLOG
Hafenlaternen
     
    Leise Bluesmusik drang von jenseits des Pappelwäldchens herüber, als der hünenhafte Mann seine Pfeife ausklopfte. Die Ortsmitte der Gemeinde Brendan’s Ferry lag über einen Kilometer entfernt, doch die Baracke, in der die Arbeiter nach ihrem Tagwerk Branntwein tranken, lag an ihrem äußersten Rand. Wie an den meisten Tagen, wenn die Signaltöne der Schiffe draußen auf der Wasserstraße verklungen waren und die Abendsonne mit dem dunstigen Horizont verschmolz, vibrierte das Wellblech-Gebäude vom Klang der Zwei-Dollar-Harmonikas und der mit Klebeband reparierten Gitarren. Hier draußen genoss der Mann den Blues weit mehr als auf einem Platz vor irgendeiner Bühne. Irgendwie schien die gefühlvolle Musik, wenn sie losgelöst von den Menschen und ihren Bauten geisterhaft über eine Lichtung schwebte, zu einem Teil des Waldes zu werden. Als würde sie dorthin gehören. Als wäre sie schon immer dort gewesen.
    Als würde sie für immer dort bleiben.
     
    Heute Nacht, heute Nacht
    Geht der Traum eines Lebens zu Ende
    Denn mein Schiff sticht in See
    Und mein Mädchen nimmt Abschied von mir
     
    Sorgfältig stopfte er seine Pfeife neu, zündete sie an und sog den starken, harzigen Rauch tief ein. Hinter sich hörte er einen Gewehrschuss oder das Zerbrechen eines Zweiges - oder beides, das blieb sich gleich: Er hatte den Jungen bereits gesehen, als dieser noch einige hundert Meter entfernt gewesen war. Die Möglichkeiten, die dieses Zusammentreffen in sich barg, hatte er schon vor mehr als zwanzig Jahren erkannt. Er konnte dem nicht entgehen. Die bevorstehenden Ereignisse hatten in den neunzig Zentimetern gefalteten Stahls, die der Junge in der Hand hielt, metallene Gestalt angenommen. Der große Mann zog noch einmal an seiner Pfeife, lehnte sich zurück und genoss, wie sich der Rauch und die Musik in seinem Kopf miteinander verwoben.
     
    Lebe wohl, sagte sie
    Und sie gab mir noch einmal die Hände
    Wart auf mich, sagte ich
    Denn ich komm’ wenn es Frühling wird zu dir
     
    Ein Wort des Grußes und eine Herausforderung, die mitschwang, als der Junge ihn mit Namen ansprach – Furcht, Zorn und Zuneigung lagen darin. Er nahm einen letzten Zug von der Pfeife und setzte sie auf der Decke ab, die zu seinen Füßen lag. Der Stoff war noch warm von dem hastigen Liebesspiel, das nur wenige Minuten zurücklag. Die Pfeife kippte um und der glühende Tabak versengte das Gewebe. Rauch vermengte sich mit den Gerüchen von Parfüm und Liebe, Sex und Schweiß. Worte wurden ausgetauscht, eine Anschuldigung ausgesprochen und bestätigt. Ein Ultimatum wurde gefaucht und in unerwarteter Weise beantwortet. Die Arme in einer flehenden Geste ausgebreitet, kniete der große Mann vor dem Jungen und schloss die Augen. Ein brausender Wind erfüllte seinen Kopf, übertönte die Welt. Die Worte konnte er jedoch noch immer hören:
     
    Unter den Hafenlaternen von New Orleans
    Sang mir der Wind heut zum Abschied sein Lied
     
    Er stellte sich vor, er könnte alles spüren – das Gewicht von tausend Jahren und mehr. Es ruhte in den Bäumen, in diesem Augenblick. Die Eleganz eines königlichen Hofes, seit Jahrhunderten vergangen, die zärtliche Berührung einer Vision, deren Knochen längst schon zu Staub zerfallen waren. Der Saft eines vollkommenen Apfels, der ihm das Kinn hinab und über die Brust lief, seine Lenden und seine Seele erfüllte und sein Herz in einen Stein verwandelte, der die Zeitalter durchleben würde, bis zu diesem Augenblick.
    In einem eleganten Bogen hob der Junge das Schwert, das in den letzten Sonnenstrahlen purpurrot funkelte, und ließ den mit Salzwassertränen benetzten Stahl hinabsausen.
     
    Seh ich vor mir, liebes Mädchen, dein schönes Gesicht
    Träum ich von dir, weil dein Mund mir den Himmel verspricht
     
    Das emporspritzende Blut schreckte einen Schwarm Drosseln auf. Der Mann stürzte nach Westen, der Mann stürzte nach Osten.
     
    Unter den Hafenlaternen von New Orleans
    Werd ich am Tag deiner Heimkehr einst steh’n
     
    Wenige Minuten später ließen sich die Drosseln wieder in den Pappeln nieder, und die Musik, die der große Mann nun nicht mehr hören konnte, wehte noch immer aus der Baracke herüber und über den Wald hinweg. Sie spielte weiter, bis am Himmel die Sterne leuchteten, die rotbefleckten Blätter auf der Lichtung getrocknet und ihre Farben dunkler geworden waren; spielte weiter, während das Universum seinen Lauf nahm, Schachfiguren aufgestellt wurden und die
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