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Plattform

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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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Seine Methode wirkte anscheinend gut bei Überlebenden, die von Verstümmelungs- und Todesängsten verfolgt wurden. »Das sind nicht Ihre eigenen Schmerzen, die haben gar nichts mit Ihnen zu tun, das sind nur Gespenster, die sich in Ihrem Kopf einnisten«, sagte er zu den Leuten; und die Leute glaubten ihm schließlich.
        Ich weiß nicht mehr, wann ich angefangen habe, die Situation zu begreifen - aber auch dann nur in vorübergehenden lich
    ten Momenten. Über längere Zeiträume - und die gibt es immer noch - war Valérie fur mich absolut nicht tot. Anfangs konnte ich diese Augenblicke nach Belieben in die Länge ziehen, ohne die geringste Anstrengung. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als mir das schwerfiel und ich die Last der Wirklichkeit richtig zu spüren bekam; es war kurz nach dem Besuch von JeanYves. Es war ein schwerer Moment voller Erinnerungen, die ich kaum zu leugnen vermochte. Ich habe ihn nicht gebeten wiederzukommen.
         Marie-Jeannes Besuch dagegen tat mir sehr gut. Sie sagte nicht viel, erzählte mir etwas über die Atmosphäre im Büro. Ich sagte ihr gleich, daß ich nicht die Absicht hatte, die Arbeit wieder aufzunehmen, weil ich mich in Krabi niederlassen wollte. Sie nickte, ohne eine Bemerkung darüber zu verlieren. » Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »bald ist alles wieder okay.« Sie blickte mich mit stummem Mitgefühl an; seltsamerweise schien sie mir sogar zu glauben.
        Der Besuch von Valeries Eltern war besonders schwer zu ertragen ; der Psychiater mußte ihnen wohl erklärt haben, daß es Phasen gäbe, in denen ich unter Realitätsverleugnung litt, so daß Valeries Mutter fast die ganze Zeit weinte, ihr Vater schien sich ebenfalls ziemlich unbehaglich zu fühlen. Sie waren auch gekommen, um ein paar praktische Dinge zu regeln und mir einen Koffer mit meinen persönlichen Sachen zu bringen. Die Wohnung im 13. Arrondissement wolle ich doch sicher nicht behalten. Natürlich nicht, natürlich nicht, erwiderte ich, das sehen wir später; in diesem Augenblick fing Valeries Mutter wieder an zu weinen.

    Das Leben in einer Anstalt verläuft ziemlich problemlos, die wesentlichen menschlichen Bedürfhisse werden dort befriedigt. Ich konnte mir wieder »Fragen an den Champion« ansehen, die einzige Sendung, die mich interessierte, ganz im Gegensatz zu den Nachrichten. Ein großer Teil der anderen
    Heimbewohner verbrachte den ganzen Tag vor dem Fernseher. Im Grunde hatte ich nicht viel fürs Fernsehen übrig: die Bilder bewegten sich viel zu schnell. Wenn ich ganz ruhig blieb und es möglichst vermied, zu denken, dann würde allmählich alles wieder in Ordnung kommen, davon war ich überzeugt.
        An einem Vormittag im April erfuhr ich, daß die Dinge tatsächlich wieder in Ordnung gekommen waren und daß ich bald entlassen würde. Ich hatte den Eindruck, daß mein Leben dadurch eher komplizierter wurde, denn das hieß, daß ich mir ein Hotelzimmer suchen und mir wieder eine neutrale Umgebung schaffen mußte. Wenigstens hatte ich genug Geld; das war schon etwas. »Man muß immer die positive Seite der Dinge sehen«, sagte ich zu einer Krankenschwester. Sie schien überrascht zu sein, denn es war das erste Mal, daß ich sie ansprach.
        Gegen Realitätsverleugnung, erklärte mir der Psychiater bei unserem letzten Gespräch, gebe es keine spezifische Heilmethode; es handele sich dabei nicht wirklich um eine psychische Krankheit, sondern um eine Störung des Vorstellungssystems. Und wenn er mich so lange in der Klinik behalten habe, dann vor allem deshalb, weil er befürchtete, ich könne einen Selbstmordversuch unternehmen - das käme bei Patienten, die ganz plötzlich das Bewußtsein wiederfänden, ziemlich häufig vor; aber jetzt sei ich außer Gefahr. So so, sagte ich, so so.

        Eine Woche, nachdem ich die Klinik verlassen hatte, flog ich wieder nach Bangkok. Ich hatte nichts Bestimmtes vor. Wenn wir eine ideale Natur besäßen, könnten wir uns mit der Bewegung der Sonne begnügen. In Paris waren die Jahreszeiten zu ausgeprägt, das war eine Quelle der Unruhe und der Störung. In Bangkok ging die Sonne um sechs Uhr auf; um achtzehn Uhr ging sie wieder unter; in der Zwischenzeit legte sie immer den gleichen Weg zurück. Es gab angeblich eine Zeit des Monsunwechsels, aber die hatte ich noch nie miterlebt. Die Stadt war ziemlich unruhig, den Grund dafür hatte ich noch nicht richtig erfaßt, es handelte sich wohl eher um eine natürliche Gegeben heit.
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