Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plattform

Plattform

Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
des Kranken. Ich dagegen zeigte nichts dergleichen. Man konnte mich auf die Seite rollen, um mir eine Spritze zu geben: Wenn drei Stunden später jemand wiederkam, lag ich immer noch genau in der gleichen Stellung. In der Nacht vor dem Abflug stieß ich mich auf dem Weg zur Toilette im Gang des Krankenhauses heftig an einer Tür. Morgens war mein Gesicht blutüberströmt, meine Augenbraue geplatzt; die Wunde mußte gereinigt und verbunden werden. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, eine Krankenschwester zu rufen; ich hatte überhaupt nichts gespürt.

        Der Flug war ein neutraler Zeitraum gewesen; ich hatte sogar die Angewohnheit verloren zu rauchen. Vor dem Laufband mit dem Gepäck drückte ich Jean-Yves die Hand. Dann fuhr ich mit dem Taxi in die Avenue de Choisy.
        Mir wurde sofort klar, daß es mir nicht gut ging und daß es so nicht weitergehen konnte. Ich packte meinen Koffer nicht aus. Mit einer Plastiktüte in der Hand ging ich durch die Wohnung und sammelte alle Fotos von Valérie ein, die ich finden konnte. Die meisten waren bei ihren Eltern in der Bretagne aufgenommen worden, am Strand oder im Garten. Dann waren da auch noch ein paar erotische Fotos, die ich in der Wohnung geknipst hatte: Ich sah gern zu, wie sie onanierte, ich fand, sie hatte dabei eine hübsche Geste.
        Ich setzte mich aufs Sofa und wählte eine Nummer, die man mir für den Notfall gegeben hatte. Es war so etwas wie ein Krisenstab, der rund um die Uhr zu erreichen und speziell für die Überlebenden des Attentats eingerichtet worden war. Er war in einem Gebäude des Krankenhauses Sainte-Anne untergebracht.

        Die meisten Leute, die darum gebeten hatten, aufgenommen zu werden, waren tatsächlich in beklagenswertem Zustand. Obwohl sie Beruhigungsmittel in hohen Dosen einnahmen, hatten sie jede Nacht Albträume, die von lautem Geschrei, Schmerzgebrüll und Weinkrämpfen begleitet wurden. Wenn ich ihnen auf dem Gang begegnete, wunderte ich mich jedesmal über ihre verzerrten, zu Tode erschrockenen Gesichter; sie schienen von der Angst buchstäblich zermürbt zu sein. Und diese Angst, sagte ich mir, würden sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr loswerden.
        Was mich betraf, fühlte ich mich vor allem ungeheuer abgespannt. Ich stand im allgemeinen nur auf, um eine Tasse Nescafé zu trinken oder etwas Zwieback zu essen; man brauchte weder an den Mahlzeiten noch an den verschiedenen angebotenen Therapien teilzunehmen. Ich mußte jedoch eine ganze Reihe von Untersuchungen über mich ergehen lassen, und drei Tage nach meiner Aufnahme wurde ich zu einem Gespräch mit dem Psychiater gebeten; die Untersuchungen hatten ein »extrem geschwächtes Reaktionsvermögen« ergeben. Ich litt nicht, aber ich fühlte mich tatsächlich geschwächt; ich fühlte mich über alle Maßen geschwächt. Er fragte mich, was ich zu tun gedächte. Ich erwiderte: »Abwarten.« Ich zeigte mich einigermaßen optimistisch; erklärte ihm, daß all diese Trauer vorübergehen und ich eines Tages wieder glücklich sein werde, daß ich aber erst mal warten müsse. Das schien ihn nicht wirklich zu überzeugen. Er war um die Fünfzig, hatte ein volles, fröhliches, völlig bartloses Gesicht.

        Nach einer Woche brachte man mich für einen längeren Aufenthalt in eine andere psychiatrische Klinik. Ich sollte etwas über drei Monate dort bleiben. Zu meiner großen Überraschung traf ich dort denselben Psychiater wieder an. Das sei keinesfalls verwunderlich, erklärte er mir; seine Abteilung befinde sich hier. Die Hilfe für die Opfer von Attentaten sei nur eine zeitlich begrenzte Aufgabe gewesen, auf die er sich im übrigen spezialisiert hatte - er habe schon dem Krisenstab angehört, der nach dem Attentat in der RER-Station Saint-Michel gebildet worden war.
        Er wirkte in seiner Ausdrucksweise nicht wie ein typischer Psychiater, auf jeden Fall blieb das erträglich. Ich erinnere mich, daß er davon sprach, sich von »inneren Bindungen zu befreien«, das hörte sich eher an wie buddhistisches Gewäsch. Was war da zu befreien? Ich bestand aus einer einzigen inneren Bindung. Da ich von Natur aus vergänglich bin, sei ich, meiner Natur entsprechend, eine Bindung mit etwas Vergänglichem eingegangen - all das bedürfe keines besonderen Kommentars. Wenn ich von Natur aus unvergänglich gewesen wäre, fuhr ich fort, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen, wäre ich natürlich eine Bindung mit unvergänglichen Dingen eingegangen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher