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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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Tage geschlafen hatte. »Also, Sie haben nicht richtig geschlafen«, verbesserte er sich. »Manchmal schienen Sie wach zu sein, wir haben mehrfach versucht, mit Ihnen zu sprechen; aber heute haben wir zum ersten Mal den Kontakt herstellen können. « Den Kontakt herstellen, sagte ich mir. Er berichtete mir auch, daß die Bilanz des Attentats furchtbar war: Bis zum heutigen Tag hatte es hundertsiebzehn Tote gegeben; es war das mörderischste Attentat, das es je in Asien gegeben hatte. Ein paar Verletzte waren noch in äußerst kritischem Zustand, sie waren nicht transportfähig; Lionel war unter ihnen. Er hatte beide Beine verloren und einen Metallsplitter in den Unterleib erhalten; seine Überlebenschancen waren äußerst gering. Die anderen Verletzten waren nach Bangkok ins Bumrungrad Hospital transportiert worden. Jean-Yves war nur leicht verletzt, eine Kugel hatte seinen Oberarmknochen zerschmettert; er war ambulant behandelt worden. Ich selbst hatte absolut nichts, keine Schramme. »Was Ihre Freundin angeht ...«, sagte der Arzt abschließend, »ihre Leiche ist bereits nach Frankreich überfuhrt worden. Ich habe mit ihren Eltern am Telefon gesprochen: Sie wird in der Bretagne beerdigt. «
        Er verstummte; vermutlich erwartete er, daß ich etwas sagte. Er beobachtete mich aus den Augenwinkeln; erwirkte immer besorgter.

        Gegen Mittag kam eine Krankenschwester mit einem Tablett; sie nahm es eine Stunde später unangerührt wieder mit. Sie sagte zu mir, ich müsse wieder anfangen, etwas zu essen, das sei unbedingt nötig.
        Jean-Yves besuchte mich am Nachmittag. Auch er sah mich seltsam verstohlen an. Er erzählte mir vor allem von Lionel; er lag im Sterben, es war nur noch eine Frage von Stunden. Er habe oft nach Kim gefragt. Sie war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben, schien sich aber schnell über den Verlust hinweggetröstet zu haben : Jean-Yves hatte sie am Vortag bei einem Spaziergang durch Krabi am Arm eines Engländers gesehen. Er hatte Lionel nichts davon erzählt, aber er schien sich sowieso keine großen Illusionen zu machen; es sei schon ein großes Glück gewesen, daß er sie kennengelernt habe. »Es ist seltsam«, sagte Jean-Yves zu mir, »er scheint glücklich zu sein.«

        Als er sich anschickte, mein Zimmer zu verlassen, merkte ich, daß ich kein Wort gesagt hatte; ich wußte wirklich nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Ich spürte wohl, daß irgend etwas nicht stimmte, aber das war ein undeutliches Gefühl, schwer zu formulieren. Mir schien es am besten, zu schweigen und abzuwarten, daß die Leute um mich herum ihren Irrtum einsahen. Es war nur ein unangenehmer Moment, der vorübergehen würde.
        Ehe Jean-Yves das Krankenzimmer verließ, blickte er mich noch einmal an und schüttelte entmutigt den Kopf. Angeblich, zumindest hat man mir das später erzählt, redete ich sehr viel, sogar ununterbrochen, wenn man mich allein im Zimmer ließ; doch sobald jemand hereinkam, verstummte ich.
        Ein paar Tage später brachte man uns mit einem Sanitätsflugzeug ins Bumrungrad Hospital. Ich verstand die Gründe für diese Überführung nicht recht; ich nehme an, daß es vor allem darum ging, der Polizei die Möglichkeit zu geben, uns zu vernehmen. Lionel war am Abend zuvor gestorben; als ich über den Flur ging, konnte ich einen Blick auf seinen in ein Laken gehüllten Leichnam werfen.
        Die thailändischen Polizisten wurden von einem Botschaftsattache begleitet, der als Dolmetscher fungierte. Ich hatte ihnen leider nicht viel zu sagen. Ganz besonders schien sie die Frage zu beschäftigen, ob die Angreifer arabischen oder asiatischen Typs gewesen seien. Ich begriff ihre Besorgnis durchaus, es war wichtig zu wissen, ob eine internationale Terroristenorganisation in Thailand Fuß gefaßt hatte oder ob es sich um malaiische Separatisten handelte; aber ich konnte nur immer wieder sagen, daß alles sehr schnell gegangen war und daß ich nur Silhouetten gesehen hatte; meiner Meinung nach konnten es Männer malaiischen Typs gewesen sein.
        Anschließend kamen die Amerikaner, die, wie ich vermute, dem CIA angehörten. Sie drückten sich ziemlich brutal und in unangenehmem Ton aus, ich hatte den Eindruck, als gehörte ich selbst zu den Verdächtigen. Sie hatten es nicht für nötig gehalten, einen Dolmetscher mitzubringen, so daß mir der Sinn ihrer Fragen zum großen Teil entging. Am Ende zeigten sie mir eine Reihe von Fotos, die vermutlich internationale
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