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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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kurzgeschorenen Haar, meiner dünnrandigen Brille und meinem mürrischen Gesicht, den Kopf leicht gesenkt, um einem Sampler mit christlicher Trauermusik zu lauschen, hatte ich mich in dieser Situation sehr wohl gefühlt - sehr viel wohler als auf einer Hochzeit zum Beispiel. Beerdigungen sind eben mein Ding. Ich hörte auf, in die Pedale zu steigen, und hustete leicht. Die Dunkelheit legte sich über die Weiden ringsumher. In der Nähe der Betonkonstruktion, in die der Heizkessel eingelassen war, konnte man einen bräunlichen, unzureichend gereinigten Fleck erkennen. Dort hatte man meinen Vater in Shorts und einem Sweatshirt mit dem Aufdruck »I love New York« mit zerschmettertem Schädel aufgefunden. Dem Gerichtsmediziner zufolge war der Tod drei Tage zuvor eingetreten. Man hätte es, wenn man unbedingt wollte, für einen Unfall halten können, er hätte auf einer Ölpfütze oder was weiß ich ausrutschen können. Der Fußboden des Raums war jedoch vollkommen trocken; und der Schädel war an mehreren Stellen geplatzt, etwas Gehirnmasse war sogar auf den Boden gespritzt; es handelte sich also mit größerer Wahrscheinlichkeit um einen Mord. Hauptmann Chaumont von der Gendarmerie in Cherbourg würde im Laufe des Abends vorbeikommen.

        Als ich wieder im Wohnzimmer war, stellte ich den Fernseher an, einen Sony 16:9 mit einem 82 cm Bildschirm, dolby surround-Klang und integriertem DVD-Player. Im ersten Programm lief eine Episode aus Xena, die Kriegerin, eine meiner Lieblingsserien; zwei ausgesprochen muskulöse Frauen, die Mieder aus Metall und Miniröcke aus Wildleder trugen, gingen mit Säbeln aufeinander los. »Deine Herrschaft hat schon viel zu lange gedauert, Tagrathâ!« schrie die Blonde. »Ich bin Xena, die Kriegerin der Ebenen des Westens!« Es klopfte an die Tür; ich stellte den Ton leiser.
        Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Der Wind bewegte sanft die regennassen Zweige hin und her. Eine junge Frau nordafrikanischen Typs von etwa fünfundzwanzig Jahren stand im Eingang. »Ich heiße Aïcha«, sagte sie. »Ich habe bei Monsieur Renault zweimal in der Woche geputzt. Ich komme, um meine Sachen abzuholen. «
        »Ach so...«, sagte ich, »ach so...« Ich machte eine Geste, die einladend aussehen sollte, irgendeine Geste. Sie kam herein und warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm: Die beiden Kriegerinnen kämpften jetzt mit bloßen Fäusten in unmittelbarer Nähe eines Vulkans; ich nehme an, daß dieser Anblick für manche Lesbierinnen eine gewisse aufreizende Wirkung hat. »Ich will Sie nicht stören«, sagte Aïcha, »es dauert nur ein paar Minuten.«
        »Sie stören mich nicht«, sagte ich, »nichts kann mich im Grunde stören.« Sie nickte, als könne sie das verstehen, ihre Augen blieben einen Moment auf meinem Gesicht ruhen; sie versuchte vermutlich die äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Vater zu erkennen, schloß vielleicht daraus auf eine gewisse moralische Ähnlichkeit. Nachdem sie mich ein paar Sekunden gemustert hatte, wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf, die zu den Schlafzimmern führt. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich mit erstickter Stimme, »lassen Sie sich ruhig Zeit...« Sie erwiderte nichts, verlangsamte nicht einmal den Schritt; wahrscheinlich hatte sie es nicht gehört. Erschöpft von der Begegnung, setzte ich mich wieder aufs Sofa. Ich hätte sie auffordern sollen, ihren Mantel abzulegen; normalerweise tut man das, fordert die Leute auf, ihren Mantel abzulegen. Da wurde mir bewußt, wie lausig kalt es in dem Raum war - eine feuchte, durchdringende Kälte, eine Grabeskälte. Ich wußte nicht, wie man die Heizung anstellt, hatte keine Lust, es auszuprobieren. Jetzt war mein Vater tot, und ich hätte sofort wieder wegfahren sollen. Ich wechselte gerade rechtzeitig zum dritten Programm, um die letzte Runde von Fragen an den Champion zu verfolgen. In dem Augenblick, als Nadège aus Le Val-Fourré zu Julien Lepers sagte, daß sie bereit sei, ihren Titel zum drittenmal aufs Spiel zu setzen, kam Aïcha mit einer leichten Reisetasche über der Schulter die Treppe hinunter. Ich stellte den Fernseher ab und ging schnell auf sie zu. »Ich habe Julien Lepers schon immer sehr bewundert«, sagte ich zu ihr. »Selbst wenn er die Stadt oder das Dorf, aus dem der Kandidat stammt, nicht direkt kennt, gelingt es ihm immer, ein paar Worte über das Departement oder die Gegend zu sagen; er besitzt eine zumindest ungefähre Kenntnis vom Klima und den
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