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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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Sehenswürdigkeiten der näheren Umgebung. Und vor allem kennt er das Leben: Die Kandidaten sind für ihn menschliche Wesen, er kennt ihre Schwierigkeiten und er kennt ihre Freuden. Nichts von dem, was die menschliche Wirklichkeit der Kandidaten ausmacht, ist ihm wirklich fremd oder stößt ihn ab. Ganz gleich, wer der Kandidat ist, es gelingt ihm immer, ihn etwas über seinen Beruf, seine Familie oder seine Leidenschaften erzählen zu lassen, also alles, was in seinen Augen ein Leben ausmacht. Ziemlich oft spielen die Kandidaten in einer Blaskapelle mit oder singen in einem Chor; sie opfern ihre Zeit für die Veranstaltung eines lokalen Festes oder stellen sich in den Dienst einer humanitären Sache. Ihre Kinder sitzen häufig unter den Zuschauern im Saal. Die Sendung vermittelt im allgemeinen den Eindruck, daß die Leute glücklich sind, und man selbst fühlt sich glücklicher und besser. Finden Sie nicht?«
        Sie betrachtete mich, ohne zu lächeln. Ihr Haar war zu einem Knoten hochgesteckt, ihr Gesicht kaum geschminkt, ihre Kleidung eher nüchtern; eine seriöse junge Frau. Sie zögerte ein paar Sekunden, ehe sie mit leiser, durch die Schüchternheit etwas heiserer Stimme sagte: »Ich habe Ihren Vater sehr gemocht.« Ich wußte nicht, was ich ihr darauf erwidern sollte; das erschien mir zwar seltsam, aber durchaus möglich. Der alte Mann hatte sicher eine ganze Menge zu erzählen gehabt: Er war nach Kolumbien, nach Kenia oder was weiß ich wohin gereist; er hatte Gelegenheit gehabt, Nashörner mit dem Fernglas zu beobachten. Jedesmal wenn wir uns trafen, hatte er sich darauf beschränkt, ironische Bemerkungen über meinen Status als Beamter und über die Sicherheit, die damit verbunden war, zu ma chen. »Du hast den richtigen Job gewählt, um eine ruhige Kugel zu schieben...«, sagte er immer, ohne seine Verachtung zu verbergen; in einer Familie gibt es eben oft ein paar Schwierigkeiten. »Ich lasse mich zur Krankenschwester ausbilden«, fuhr Aïcha fort, »aber da ich von zu Hause weggegangen bin, bin ich gezwungen, als Putzfrau zu arbeiten.« Ich zermarterte mir das Hirn, um eine passende Antwort zu finden: Hätte ich sie über die Höhe der Mieten in Cherbourg befragen sollen? Ich entschloß mich schließlich für ein »Ja, ja...«, in das ich eine gewisse Lebenserfahrung hineinzulegen versuchte. Das schien ihr zu genügen, sie schritt zur Tür. Ich drückte das Gesicht an die Scheibe, um ihren VW Polo zu beobachten, der auf dem schlammigen Weg wendete. Im dritten Programm wurde ein Fernsehfilm gezeigt, der sich wohl im 19. Jahrhundert auf dem Land abspielte, mit Tchéky Karyo in der Rolle eines Landarbeiters. Zwischen zwei Klavierstunden gewährte die Tochter des Gutsherrn, der von Jean-Pierre Marielle dargestellt wurde, dem verführerischen Burschen vom Land gewisse Freiheiten. Ihre Liebesspiele fanden in einer Scheune statt; ich nickte in dem Augenblick ein, als Tchéky Karyo ihr energisch das Höschen aus Organza vom Leibe riß. Die letzte Einstellung, an die ich mich noch erinnerte, war ein Zwischenschnitt, eine kleine Gruppe von Schweinen.

    Ich wurde vom Schmerz und der Kälte geweckt; ich muß wohl in einer verkehrten Stellung eingeschlafen sein, meine Halswirbel waren wie gelähmt. Ich hustete schwer, als ich aufstand; mein Atem erfüllte die eisige Atmosphäre des Raums mit feuchtem Dunst. Seltsamerweise lief im Fernsehen Ein toller Hecht, eine Sendung des ersten Programms; ich mußte wohl zwischendurch aufgewacht sein oder wenigstens soweit das Bewußtsein wiedergefunden haben, daß ich in der Lage gewesen war, die Fernbedienung zu betätigen; ich konnte mich absolut nicht daran erinnern. Die Nachtsendung war den Welsen gewidmet, riesigen Fischen ohne Schuppen, die in den französi sehen Flüssen aufgrund der Klimaerwärrnung immer zahlreicher geworden sind; die Nähe von Atomkraftwerken mögen sie ganz besonders. Die Reportage bemühte sich, gewisse Mythen zu erhellen: Ausgewachsene Welse erreichen tatsächlich eine Länge von drei oder vier Metern; in der Drôme habe man sogar Exemplare gemeldet, die fünf Meter überstiegen; daran war nichts unwahrscheinlich. Dagegen sei es völlig ausgeschlossen, daß diese Fische das Verhalten von Fleischfressern zeigten oder badende Menschen angriffen. Der volkstümliche Argwohn, der die Welse umgab, schien sich in gewisser Weise auf jene auszudehnen, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, sie zu angeln; die kleine Bruderschaft der Welsangler war in dem
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