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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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Hauptmann Chaumont hatte keine Mühe, ihm das nachzuweisen. Die Schädeluntersuchung des Opfers hatte einwandfrei ergeben, daß der Täter mit Härte und Verbissenheit vorgegangen war; an der Leiche waren zahlreiche Prellungen festgestellt worden, die vermutlich auf eine Reihe von Fußtritten zurückgingen. Das Gesicht meines Vaters war außerdem so brutal über den Boden geschleift worden, daß praktisch ein Auge aus der Augenhöhle gesprungen war. »Ich weiß nicht mehr ...«, sagte der Angeklagte, »ich habe einen Wutanfall bekommen.« Wenn man seine sehnigen Arme, sein schmales, böses Gesicht betrachtete, fiel es einem nicht schwer, ihm das abzunehmen : Er hatte ohne Vorsatz gehandelt, war vermutlich in Panik geraten durch das Aufprallen des Schädels auf den Boden und den Anblick des ersten Blutes. Seine Verteidi gungsstrategie war klar und glaubhaft, vor Gericht würde er sich damit sehr gut aus der Affäre ziehen: ein paar Jahre mit Bewährung, mehr nicht. Befriedigt über den Ablauf des Nachmittags schickte sich Hauptmann Chaumont an, die Sache abzuschließen. Ich stand von meinem Stuhl auf, ging auf die Fenstertür zu. Es wurde dunkel: Ein paar Schafe beendeten ihren Tag. Auch sie sind dumm, vielleicht noch dümmer als Aïchas Bruder; aber in ihren Genen ist keine Gewaltreaktion programmiert. Am letzten Abend ihres Lebens blöken sie vor Aufregung, ihr Herzrhythmus beschleunigt sich, ihre Beine bewegen sich verzweifelt; dann fällt ein Schuß aus der Pistole, das Leben verläßt sie, und ihr Körper verwandelt sich in Fleischerware. Nachdem wir dem einen oder anderen die Hand geschüttelt hatten, gingen wir auseinander; Hauptmann Chaumont bedankte sich, daß ich gekommen war.
        Ich sah Aïcha am folgenden Tag wieder; auf den Rat des Häusermaklers hin hatte ich beschlossen, das Haus vor den ersten Besichtigungen gründlich saubermachen zu lassen. Ich gab ihr die Schlüssel, dann begleitete sie mich zum Bahnhof von Cherbourg. Der Winter ergriff Besitz vom Bocage, Nebelmassen türmten sich über den Hecken. Zwischen ihr und mir war die Sache nicht einfach. Sie hatte die Sexualorgane meines Vaters kennengelernt, was leicht zu einer etwas unangebrachten Vertrautheit führen konnte. All das war im ganzen genommen ziemlich überraschend: Sie machte den Eindruck einer seriösen jungen Frau, und mein Vater hatte nichts von einem Verführer. Er muß wohl doch gewisse anziehende Züge, gewisse liebenswerte Seiten gehabt haben, die mir entgangen waren ; tatsächlich hatte ich sogar Mühe, mich an seine Gesichtszüge zu erinnern. Die Männer leben nebeneinander wie die Rinder; es gelingt ihnen höchstens von Zeit zu Zeit, gemeinsam eine Flasche Schnaps zu kippen.
        Aïchas VW hielt auf dem Bahnhofsvorplatz; mir war klar, daß es besser wäre, wenn ich ein paar Worte sagen würde, ehe wir auseinandergingen. »Also ...«, sagte ich. Nach ein paar Sekunden wandte sie sich mit dumpfer Stimme an mich : » Ich habe vor, diese Gegend zu verlassen. Ich habe einen Freund, der mir einen Job als Kellnerin in Paris besorgen kann; ich setze meine Ausbildung dort fort. Meine Familie betrachtet mich sowieso als Hure.« Ich gab ein verständnisvolles Gemurmel von mir. »In Paris sind mehr Menschen...«, versuchte ich schließlich gequält mein Glück; sosehr ich mir auch den Kopf zerbrach, das war alles, was mir zu Paris einfiel. Diese äußerst magere Erwiderung schien sie nicht zu entmutigen. »Von meiner Familie habe ich nichts zu erwarten«, fuhr sie mit unterdrückter Wut fort. »Sie sind nicht nur arm, sondern außerdem noch blöd. Vor zwei Jahren hat mein Vater eine Pilgerreise nach Mekka gemacht; seither ist nichts mehr mit ihm anzufangen. Meine Brüder sind noch schlimmer: Sie unterstützten sich gegenseitig in ihrer Dummheit, besaufen sich mit Pastis und behaupten gleichzeitig, die Verfechter des wahren Glaubens zu sein; und sie erlauben sich, mich als Schlampe zu bezeichnen, weil ich Lust habe zu arbeiten, anstatt einen Idioten wie sie zu heiraten. «
        »Ja, das stimmt, im großen und ganzen sind die Muslime nicht gerade berauschend ...«, sagte ich verlegen. Ich nahm meine Reisetasche und öffnete die Tür. »Sie schaffen es bestimmt ...«, murmelte ich ohne Überzeugung. In diesem Augenblick hatte ich eine Art Vision von den Migrationsströmen, die sich wie Blutgefäße durch Europa zogen; die Muslime tauchten wie Gerinnsel darin auf, die sich langsam auflösten. Aïcha blickte mich zweifelnd an. Die
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