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Mein Auge ruht auf dir - Thriller

Mein Auge ruht auf dir - Thriller

Titel: Mein Auge ruht auf dir - Thriller
Autoren: Mary Higgins Clark
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Prolog
    1474 nach Christus
    I n der abendlichen Stille, als sich lange Schatten auf die Mauern der ewigen Stadt Rom legten, trat ein alter, gebeugter Mönch verstohlen in die Biblioteca Secreta. So hieß das Geheimarchiv der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek, die insgesamt vier Räume umfasste und zwei einhalbtausend lateinische, griechische und hebräische Manuskripte beherbergte. Manche davon durften unter strenger Aufsicht von Außenstehenden gelesen werden, andere wurden unter Verschluss gehalten.
    Zu den umstrittensten Manuskripten gehörte jenes, das unter den Bezeichnungen Josef-von-Arimathäa-Pergament oder Vatikanischer Brief bekannt war. Die Schrift, vom Apostel Petrus nach Rom gebracht, war angeblich der einzige von Jesus verfasste Brief.
    Mit einfachen Worten dankte er darin Josef von Arimathäa für die Freundlichkeiten, die dieser ihm hatte zuteilwerden lassen, nachdem er den damals gerade zwölfjährigen Jesus im Jerusalemer Tempel hatte predigen hören und in ihm den lange erwarteten Messias gesehen hatte.
    Nachdem Herodes Archelaos, der Sohn Herodes’ des Großen, herausgefunden hatte, dass das kluge und gelehrte Kind in Bethlehem geboren worden war, befahl er umgehend dessen Ermordung. Als Josef davon erfuhr, eilte er nach Nazareth und erbat von den Eltern die Erlaubnis, den Jungen nach Ägypten in Sicherheit zu bringen. Dort konnte er im Tempel von Leontopolis im Niltal die heiligen Schriften studieren.
    Über die folgenden achtzehn Jahre im Leben Jesu ist nichts bekannt. Als sich seine Zeit in Ägypten dem Ende näherte und er vorhersah, dass Josef ihm sein eigenes Grab zur letzten Ruhestätte übereignen würde, schrieb Jesus einen Brief, in dem er dem treuen Freund seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Manche Päpste hielten diesen Brief für echt, andere hegten Zweifel. Der vatikanische Bibliothekar allerdings hatte erfahren, dass sich der gegenwärtige Papst Sixtus IV. mit dem Gedanken trug, den Brief vernichten zu lassen.
    Der Hilfsbibliothekar hatte in der Biblioteca Secreta bereits auf den alten Mönch gewartet. Mit sorgenvollem Blick übergab er ihm das Pergament. »Ich tue dies auf Weisung Seiner Eminenz, des hochwürdigsten Kardinal del Portego«, sagte er. »Das heilige Pergament darf nicht zerstört werden. Bewahrt es gut in Eurem Kloster auf und verratet niemandem von seinem Inhalt.«
    Der Mönch nahm das Pergament entgegen, küsste es ehrerbietig und schob es schützend in den Ärmel seiner Kutte.
    Erst mehr als fünfhundert Jahre später, zu Beginn dieser Geschichte, sollte der Brief an Josef von Arimathäa wieder auftauchen.

1
    H eute ist die Beerdigung meines Vaters. Er wurde ermordet.
    Mit diesem Gedanken erwachte die achtundzwanzigjährige Mariah Lyons, nachdem sie eine unruhige Nacht im Haus ihrer Eltern in Mahwah verbracht hatte, einer Stadt nahe der Ramapo Mountains im nördlichen New Jersey. Sie wischte ihre Tränen fort, richtete sich langsam auf und sah sich um.
    Mit sechzehn hatte sie als Geburtstagsgeschenk ihr Zimmer neu einrichten dürfen. Sie hatte die Wände rot streichen lassen und sich für die Tagesdecke, die Kissen und die Blende der Gardinenleisten ein rot-weißes Blütenmuster ausgesucht. Ihre Hausaufgaben hatte sie dann nie am Schreibtisch gemacht, sondern immer nur im großen, bequemen Sessel in der Ecke. Ihr Blick fiel auf das Regal, das ihr Vater über der Ankleide angebracht hatte und auf dem ihre Pokale standen, die sie mit den Fußball- und Basketballmannschaften an der Highschool gewonnen hatte. Er war immer so stolz auf mich, dachte sie traurig. Er hat das Zimmer neu einrichten wollen, als ich mit dem College fertig war, aber ich habe mich dagegen entschieden. Es ist mir egal, dass es immer noch wie das Zimmer eines Teenagers aussieht.
    Bislang hatte sie sich glücklich schätzen können, weil sie bis auf ihre Großmutter, die mit sechsundachtzig Jahren im Schlaf gestorben war, nie um ein Familienmitglied hatte trauern müssen. Ich habe Großmutter wirklich geliebt, trotzdem war ich dankbar um ihren Tod, dachte sie. Ihr ist vieles erspart geblieben, weil sie doch körperlich mehr und mehr abgebaut und es immer verabscheut hat, auf andere angewiesen zu sein.
    Mariah stand auf, griff sich den Morgenmantel am Fußende des Bettes, schlüpfte hinein und schlang den Gürtel um die gertenschlanke Taille. Aber jetzt ist es etwas anderes, dachte sie. Mein Vater ist keines natürlichen Todes gestorben. Er ist in seinem Arbeitszimmer erschossen worden.
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