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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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    I ch habe beschlossen, Margueritte zu adoptieren. Sie feiert bald ihren sechsundachtzigsten Geburtstag, da sollte man nicht zu lange warten. Alte Leute sterben gern.
    Und wenn ihr dann was passiert – was weiß ich, dass sie auf der Straße hinfällt oder dass man ihr die Handtasche klaut –, werde ich da sein. Ich werde sofort losrennen, die Leute zur Seite schieben und sagen: »Okay! Schon gut, ihr könnt euch verziehen! Ich kümmere mich darum: Das ist meine Großmutter.«
    Dass sie nur adoptiert ist, steht ihr ja nicht auf der Stirn geschrieben.
    Ich kann ihr dann die Zeitung und ihre Pfefferminzbonbons besorgen. Mich im Park neben sie setzen, sonntags zu ihr ins Altenheim Les Peupliers gehen. Und mittags zum Essen bleiben, wenn ich will.
    Klar, gekonnt hätte ich das vorher auch, aber ich hätte mich eben wie zu Besuch gefühlt. Jetzt werde ich das alles tun, weil ich Lust dazu habe, aber auch aus Verpflichtung. Das kommt nämlich dazu: die familiäre Verpflichtung. Eine Sache, die mir gut gefallen wird, das fühle ich.
    Dass ich Margueritte getroffen habe, hat mein Leben verändert. Jemanden zu haben, an den ich gern denke, wenn ich allein bin – jemand anders als mich selbst, meine ich –, das ist verdammt komisch. Daran bin ich nicht gewöhnt. Vor ihr habe ich nie eine Familie gehabt.
    Ich meine, klar. Ich habe eine Mutter, geht ja nicht anders. Aber abgesehen davon, dass ich neun Monate lang in ihr drin war, haben wir nie viel geteilt, nur schlechte Zeiten. An Schönes kann ich mich nicht erinnern. Ich habe auch einen Vater, gezwungenermaßen. Aber ich habe nicht lange was von ihm gehabt, er hat meine Mutter gevögelt, und das war’s. Was mich allerdings nicht daran gehindert hat, groß und stark zu werden, ganz im Gegenteil: hundertzehn Kilo Muskeln und keine Spur von Fett, ein Meter neunundachtzig in die Höhe, der Rest in die Breite. Wenn meine Eltern mich gewollt hätten, wäre ich sicher ihr ganzer Stolz gewesen. Pech gehabt.
    Was für mich auch neu ist: Vor Margueritte habe ich noch nie jemanden geliebt. Ich rede nicht von sexuellen Dingen, ich rede von Gefühlen, ohne dass man gleich im Bett landet. Zärtlichkeit und Zuneigung, Vertrauen. So was alles. Wörter, die mir noch nicht so leicht über die Lippen gehen, schließlich hat man sie mir gegenüber nie so direkt benutzt, bevor Margueritte damit angefangen hat.
    Sehr anständige und reine Gefühle.
    Das muss an dieser Stelle gesagt sein, ich kenne hier nämlich welche, die bekloppt genug wären, um Bemerkungen zu machen wie: »Na, Germain, du stehst wohl auf Omas? Machst dich an Seniorinnen ran?«
    Denen würde ich am liebsten eine reinhauen.
    Schade, dass ich Margueritte noch nicht kannte, als ich sie wirklich gebraucht hätte, nämlich als ich klein war und meine Zeit damit verbrachte, allen Blödsinn auszuprobieren, den es so gibt.
    Aber das Leben ist nicht zum Bedauern da: Was vorbei ist, ist vorbei.
    Ich habe mich ganz allein erschaffen, na und? Auch wenn nicht alles nach Vorschrift gebaut ist, es hält.
    Margueritte dagegen sackt allmählich in sich zusammen. Sie hält sich schon ganz schief, gebeugt bis über die Knie. Ich werde mich gut um sie kümmern müssen, wenn ich noch eine Weile was von ihr haben will. Sie spuckt zwar große Töne, aber sie ist zerbrechlich. Sie hat Knochen wie ein Vögelchen, ich könnte sie mühelos zwischen zwei Fingern zerdrücken. Aber das ist nur so dahergesagt. Ich würde das natürlich nie tun. Seiner Großmutter die Knochen brechen, dazu müsste man ja völlig behämmert sein! Ich will damit nur sagen, wie zart sie ist. Sie erinnert mich an diese kleinen Glastierchen, die sie bei Granjean im Schreibwarenladen verkaufen. An das Reh vor allem, im Schaufenster. Es ist winzig, und die Beine, so was von fein! Nicht dicker als eine Wimper. So ist Margueritte. Wenn ich an diesem Reh vorbeikomme, würde ich es am liebsten kaufen. Drei Euro, was ist das schon? Aber ich weiß genau, in meiner Tasche würde es sofort kaputtgehen. Und wo sollte ich es denn hinstellen? In meiner Bude gibt es keine Regale für solches Zeug. Ein Wohnwagen ist klein.
    Auch für Margueritte hatte ich zuerst keinen Platz. In mir drin, meine ich. Als ich angefangen habe, sie liebzugewinnen, habe ich gleich gemerkt, dass ich Platz schaffen musste, nur für sie und meine Gefühle. Sie zu lieben, das kam nämlich zum ganzen Rest dazu – zu allem anderen, was ich schon im Schädel hatte –, und darauf war ich nicht vorbereitet.
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