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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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unter der Erde waren, kam mir ihre Idee nicht blöd vor.
    »Oder aber …«, hat Annette dann noch gesagt.
    Und an der Stelle hat sie abgebrochen.
    »Oder aber was?«
    »Du hebst alles für deine Kinder auf … Vor allem das Foto. Es wäre schön für sie, wenn sie wenigstens ein Foto von ihren Großeltern hätten.«
    »Es wäre schön, wenn ich Kinder hätte.«
    »…«
    »Oh …«
    Annette hatte einen Blick wie Weihnachten. »Nur wenn du willst, mein Liebster. Wir behalten es, wenn du einverstanden bist. Bist du einverstanden?«
    Ich habe gesagt: »Ja, klar!«
    Was sollte ich denn machen?
    Sie hat sich lachend in meine Arme geworfen.
    Sie hat gesagt: »Mein Liebster, mein Liebster!«
    Und auch: »Ich bin mir sicher, dass es ein Mädchen ist.«
    Und sofort danach: »Wir werden glücklich sein, du wirst sehen.«
    Ich glaube, ich sehe es schon.

 
    A m nächsten Morgen habe ich Margueritte die Sache mit meiner Mutter erzählt.
    Sie hat ihre Hand auf meine gelegt und gesagt: »Ihre Mama? Oh, Germain, das tut mir leid! Das ist eine schreckliche Neuigkeit.«
    »Ach, wissen Sie, meine Mutter und ich …«
    Ich habe das nicht weiter ausgeführt, sie hätte es nicht verstanden. Margueritte kommt aus einer Welt, in der die Mütter diese Ader haben. Ich hatte keine Lust, ihr alles zu erklären, Sie wissen schon, die Schreierei, bis die Nachbarn zusammenliefen, die vermurksten Fotoalben, die knallenden Türen und den ganzen Scheiß.
    An dem Tag, wo ich ihr lang und breit von meinem Leben erzählt hatte – nach dem Wörterbuch –, da habe ich genau gesehen, dass sie sich für mich grämte. Sie hat selbst schon genug Sorgen, da will ich sie nicht noch mit meinem Kram belämmern.
    Wenn man Leute liebt, dann beschützt man sie.
    Zwischen meiner Mutter und mir ist alles vorbei, wegen Todesfall. Da gibt es nichts mehr hinzuzufügen, Strich drunter.
    Margueritte muss jetzt denken, dass ich unglücklich bin. Das stimmt aber nicht, und ich schäme mich nicht mal dafür. Wie könnte ich ihr erklären, dass sie und ich auf dieser Bank mehr miteinander geredet haben, als ich es mit meinerarmen Mutter je getan habe? (Wenn ich »arm« sage, dann aus Respekt, nicht aus Gefühl, glauben Sie mir.) Und dass es mich nicht weiter traurig macht, dass sie abgekratzt ist? Und dass ich nicht mal dankbar dafür bin, dass ich geerbt habe, sondern noch zusätzlich genervt, weil sie anscheinend was für mich empfunden hat, es aber nie fertiggebracht hat, mir das zu sagen?
    Man sollte es besser so hinkriegen, dass die Kinder einen zu Lebzeiten lieben, glaube ich. So sehe ich jedenfalls die Dinge. So sehen wir beide sie, Annette und ich.
    Ich habe das Thema gewechselt, das war das Beste. Ich habe gefragt: »Würden Sie vielleicht mal zu mir nach Hause zum Essen kommen, an einem Sonntagmittag, wenn ich Sie abhole?«
    »Bei Ihnen zu Hause?«
    »Na ja, im Wohnwagen. Man kann da zu viert essen, wissen Sie, und so wenig Platz, wie Sie brauchen … Und wenn das Wetter schön ist, stellen wir den Tisch nach draußen … Dann sehen Sie auch meinen Garten.«
    Sie hat gelacht. »Oh, warum nicht? Mit dem größten Vergnügen!«
    Wir haben das Menü besprochen. Sie bringt den Nachtisch mit.
    Ich komme sie am nächsten Sonntag abholen, gegen elf.
    Und dann hat sie zu mir gesagt: »Meinerseits würde ich mich sehr freuen, wenn ich Sie ins Les Peupliers einladen dürfte, Germain. Ich hoffe, Sie sind einverstanden?«
    »Ja, na klar! Aber ich weiß nicht genau, ob ich berechtigt bin.«
    »Doch, natürlich: Die Bewohner des Heims dürfen an einem Sonntag im Monat ihre Familie einladen. Ich werde sagen, dass Sie mein Enkel sind.«
    Ich habe gedacht, dass wir uns also gegenseitig adoptiert haben, wenn sie das so sagt, und dass sich das gut trifft, von wegen der Gefühle.
    »Ihr Enkel, ich? Und Sie meinen, das wird man Ihnen glauben?«
    »Oh, mir scheint, wir sehen uns ein bisschen ähnlich, oder? Vor allem die Statur …«
    Ich habe gelacht.
    »Stimmt, da ist so was wie eine Familienähnlichkeit.«

 
    Zitate aus:
    Albert Camus, Die Pest , übersetzt von Uli Aumüller, Rowohlt 1997 / rororo 1998
    Romain Gary, Frühes Versprechen , übersetzt von Giò Waeckerlin Induni, SchirmerGraf 2008
    Luis Sepúlveda, Der Alte, der Liebesromane las, übersetzt von Gabriele Hoffmann-Ortega Lleras, Hanser 2000 / dtv 2002
    Jules Supervielle, »Das Kind vom hohen Meer«, übersetzt von Friedhelm Kemp, in: Das Kind vom hohen Meer, Manesse 1980
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