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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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aber ich habe umgeblättert.
    Und auf der nächsten Seite war da dieses kleine zwölfjährige Mädchen, das allein eine flüssige Straße entlangging – am Anfang hatte ich etwas Mühe, mir das vorzustellen, aber dann ging es, ich dachte, es ist eigentlich wie in Venedig.
    Ein kleines Mädchen, das einschlief, wenn sich auf dem Ozean ein Schiff näherte. Und wenn es einschlief, verschwand das Dorf mit ihm in den Wogen – siehe: Wellen, Fluten, Wassermassen .
    Und niemand wusste, dass es diese Kleine gab. Kein Mensch.
    Sie fand in den Vorratsschränken immer was zu essen und auf dem Ladentisch der Bäckerei frisches Brot. Wenn sie einMarmeladenglas aufmachte, so wurde sein Inhalt doch nicht weniger . Sie hätte dafür ein Patent anmelden sollen, ihr Trick würde sicher alle möglichen öffentlichen Einrichtungen interessieren, zum Beispiel die Schulkantinen oder Essen auf Rädern.
    Sie betrachtete alte Fotoalben. Sie tat so, als würde sie in die Schule gehen. Morgens und abends machte sie die Fenster auf und zu. Nachts zündete sie Kerzen an oder nähte beim Schein einer Lampe . Und mir – es ist albern, ich weiß –, mir gab es einen Stich, zu wissen, dass sie da war, diese Kleine, mitten im Nichts. Ich war in meinem Leben noch nie jemandem begegnet – nicht mal in einem Buch –, der dermaßen allein war, dermaßen abgeschnitten von allem.
    Ich bin ziemlich schnell bis ans Ende gekommen, in nur drei Tagen – denn das Buch besteht nicht nur aus einer Geschichte. Es sind mehrere kurze, hintereinander.
    Das letzte Stück, das mit Seeleute, die ihr auf hohem Meere träumt anfängt, habe ich zwei Mal gelesen, um sicher zu sein, dass ich es wirklich verstand. Dann habe ich noch mal von vorn angefangen. Und noch mal.
    Ich sah sie vor mir, die Kleine, wie sie in der Schule so tat, als ob sie der Lehrerin zuhörte. Und wie sie danach brav ihre Hausaufgaben machte. Ich sagte mir, bestimmt streckt sie ein bisschen die Zungenspitze raus, wenn sie schreibt, sie hat sich die Finger sicher mit Tinte bekleckst und wird ihre Schrift verschmieren – das passierte mir in ihrem Alter ständig.
    Aber nein, sie war ordentlicher als ich, sie hatte sauber geführte Hefte.
    Sie schaute sich im Spiegel an und hatte es eilig, größer zu werden.
    Und das verstand ich verdammt gut, denn wenn man klein ist, wartet man nur auf eins, nämlich dass es endlichanfängt. Das Leben. Und um die Zeit bis dahin rumzukriegen, macht man eben Blödsinn.
    Man träumt jahrelang davon, groß zu werden, und das alles nur, um später zu bedauern, dass man nicht mehr klein ist.
    Na ja, das sind so Nebenbemerkungen – Gedanken, die man nur für sich selbst hat.
    Als der kleine Frachtdampfer mit einer mächtigen Rauchfahne mitten durchs Dorf fährt, da habe ich mir gesagt, jetzt wird sie gerettet, die Kleine. Aber nein. Und als eine Welle sie holen kommt, eine mächtige Welle , mit zwei Augen aus Schaum, die wie echte Augen aussahen , um ihr beim Sterben zu helfen, das aber nicht schafft, da könnte man echt ausflippen – ich jedenfalls.
    Doch das Komische an der Geschichte war: Je weiter ich las, desto älter wurde sie in meinem Kopf, die Kleine. Tatsächlich wurde sie Margueritte immer ähnlicher. Sie wurde ein altes kleines Mädchen, zart wie ein Spatz, mit den Augen von Margueritte und ihren graulila Haaren.
    Und je ähnlicher sie ihr wurde, desto mehr schnürte es mir die Kehle zu, als ich den Schluss wieder las, wo es um ein Wesen geht, das weder leben noch sterben, noch lieben kann und das doch leidet, als lebte, als liebte es, als stünde es immer im Begriff zu sterben – ein in den Meereseinsamkeiten unendlich verlassenes Wesen .
    Ich hätte nicht sagen können, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass sich in Marguerittes Innerem dieses traurige kleine Mädchen versteckte, das auf die Welle wartete, die einfach nicht kommen wollte.
    Manchmal hat man so komische Ideen.

 
    D avor hatte ich mir Margueritte nie so genau angeschaut. Ich sah sie von weitem über die Allee näher trippeln. Oder aber sie saß schon auf der Bank und wartete auf mich. Wir begrüßten uns, wir zählten die Tauben, wir lasen unsere Bücher, ohne einander ständig anzustarren. Heute beobachte ich sie aber.
    Beobachten, das ist mit Sinn und Verstand schauen, mit dem Gedanken, dass man sich erinnern will. Und schlagartig sieht man besser. Klar, man bemerkt auch Sachen, die man lieber nicht hätte sehen wollen, und das ist dann Pech.
    Zum Beispiel, wenn sie
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