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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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schreibt – und auch wenn sie liest –, da dreht sie jetzt den Kopf ein bisschen zur Seite. Am Anfang fand ich das ulkig, diese neue Angewohnheit. Ich sagte mir: »So was! Sie macht es wie die Vögel und schaut sich alles von der Seite an, den Kopf etwas schräg gelegt.« Nur ist das eben keine Pose, die sie zum Spaß einnimmt. Überhaupt nicht. Sie dreht den Kopf, weil sie schon nicht mehr klar erkennen kann, was direkt vor ihr ist. Sie sieht das Leben nur noch aus dem Augenwinkel.
    Und wenn sie läuft, dann spürt man, dass sie leicht zögert. Jedenfalls wenn man sie beobachtet, dann merkt man das genau.
    Sonst nämlich, wenn man bloß ein Riesenegoist ist, so wie ich früher einer war, merkt man gar nichts.
    Wenn wir jetzt auseinandergehen, dann begleite ich sie bis zum großen Gittertor am Boulevard de la Libération. Ich würde mich schämen, sie allein gehen zu lassen.
    Ich sage zu ihr: »Ich komme mit, Margueritte, ich begleite Sie bis zum Tor.«
    Und sie antwortet: »Ach nein, Germain, Sie sind so freundlich, aber es ist mir unangenehm. Das ist doch für Sie ein großer Umweg!«
    »Das ist gar kein Problem.« Und von wegen großer Umweg , es sind vielleicht um die zweihundert Meter. Aber für die Alten muss das verdammt viel länger sein.
    »Trotzdem, Sie verlieren meinetwegen Zeit, das sehe ich doch!«
    Zeit habe ich mehr als genug. Was würde ich gewinnen, wenn ich aufhören würde, welche zu verlieren?
    Ich gehe neben ihr her. Man könnte fast sagen, über ihr , so klein ist sie, ich überrage sie um gut fünfzig Zentimeter.
    Manchmal juckt es mich in den Fingern, sie am Arm zu nehmen, wenn ich sehe, wie sie aus der Spur läuft, statt gerade in der Mitte der Allee zu bleiben. Aber ich lasse sie, solange sie sich allein auf den Beinen halten kann. Ich will sie ja auch nicht demütigen. Wenn sie ein bisschen zu weit von der Bahn abkommt, gehe ich einfach nur auf die andere Seite – ganz unauffällig, keiner merkt was – und lenke sie zurück zur Mitte.
    Wenn wir den Park verlassen, traue ich mich nicht, bis zu ihrem Altenheim mitzugehen. Ich lehne mich ans Tor und sehe ihr nach, wie sie davonwackelt wie ein altes Entlein.
    Ich behalte sie im Auge, für alle Fälle.
    Ich stelle mir vor, wie sie durch diesen verdammten Verkehr tippelt, die Zebrastreifen, die drängelnden Leute, und denke: Scheiße. Ich würde am liebsten hinter ihr herrennen,die Autos anhalten, den Leuten Angst einjagen, damit sie den Gehweg für sich allein hat.
    Und ich sage mir, dass es nicht viel entspannter ist, an einer Großmutter zu hängen, als sich zu verlieben.
    Ganz im Gegenteil.

 
    I ch habe mir die Zeit genommen, die es brauchte, um richtig lesen zu können. In manchen Sachen bin ich ziemlich stur. Und eines Nachmittags, als sich Margueritte zu mir auf die Bank setzte, habe ich zu ihr gesagt: »Ich habe eine Überraschung für Sie!«
    »Ach ja?« Und sie hat hinzugefügt: »Ich liebe Überraschungen.«
    »Sie sind mir ja wirklich eine echte Frau …«
    Sie hat gelacht. »Ach, sagen wir mal, ein Relikt davon.«
    Sie hat es mir erklärt. Da habe ich auch gelacht.
    »Also? Die Überraschung?«
    »Machen Sie die Augen zu«, habe ich gesagt.
    Sie dachte vielleicht, ich würde ihr ein Geschenk geben oder Pralinen, was weiß ich. Aber ich habe ihr nur gesagt: »Sie werden sehen, es ist poetisch und ergreifend.«
    Dann habe ich angefangen, und – Sie werden es mir vielleicht nicht glauben – ich hatte verdammt Schiss.
    » Wie war diese schwimmende Straße entstanden? Welche Seeleute hatten sie, mit Hilfe welcher Architekten, auf der Oberfläche des offenen Atlantiks erbaut, über einer Tiefe von sechstausend Metern?  … Das sind sechs Kilometer«, habe ich erklärt.
    Sie hat gelächelt, ohne die Augen zu öffnen.
    Also habe ich weitergelesen.
    Ich hatte geübt, müssen Sie wissen. Zuerst allein, nur imKopf, dann laut. Und dann vor Annette, die mir sagte: »Warte, ja, das ist gut! Nicht ganz so laut … ein bisschen schneller!« – Man hätte meinen können, wir machten Liebe.
    » Das Kind glaubte, es wäre das einzige kleine Mädchen auf der ganzen Welt. Aber wusste es überhaupt, dass es ein kleines Mädchen war? … «
    Margueritte hörte brav zu, die Hände auf den Knien gefaltet. Es war ein komisches Gefühl, mitten im Park zu sitzen und laut zu lesen, für vierzehn Tauben und eine alte Dame.
    Und während ich der Geschichte folgte, dachte ich gleichzeitig – sozusagen auf einem anderen Kanal: »Wenn dieser
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