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Herr der Moore

Herr der Moore

Titel: Herr der Moore
Autoren: Kealan Patrick Burke
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1

    Brent Prior
    Dartmoor, England
    1888

    Sie weint.
    Der Mond ruht kalt auf einem Kissen aus Nebel und starrt auf sie hinab. Die Frau stolpert blindlings mit vom Weinen aufgequollenen Augen durchs Moor und verschränkt die Arme schützend vor der Brust. Ihre Kleider sind eingerissen, das Haar zerzaust, und dunkle Striemen zeichnen ihre Wangen, als habe sie jemand mit schmutzigen Fingern beschmiert. Das Atmen fällt ihr schwer, als trage die Luft die Last ihrer Not mit. Flüchtig nimmt sie geisterhafte Gestalten in der Umgebung wahr, die sich mit wie zur Bitte erhobenen Armen aus dem Dunst schälen, wabern und ausdehnen, bis sie genauso schnell wieder verschlungen werden. Sie hastet weiter über den unebenen Grund, der ihr einst Schutz bot; jetzt ist er nichts weiter als ein Linnen, auf dem sich ihre Angst in blassen Pinselstrichen abzeichnet. Der stickige Geruch von Torfmoos dringt in ihre Nase, und unkenntliche Kreaturen fliehen, als sie sich unsicheren Schrittes nähert. Unter ihr wird weicher Lehmboden zu unnachgiebigem Stein.
    Sie hat sich verirrt.
    Dann ein Geräusch. Jemand nähert sich, und als sie herumwirbelt, stiebt der Nebel in krausen Schwaden von ihr fort. Mit weit aufgerissenen Augen sucht sie die irrsinnige Leere zwischen Erde und Mond nach dem geringsten Lebenszeichen ab. »Hallo?« Ihr Flüstern erstirbt, noch bevor es ihr richtig über die Lippen kommt. Da ist noch jemand; obwohl sie nichts erkennt, war sie sich keiner Sache in ihrem Leben jemals so sicher. Die Nebelbank schiebt sich voran, und mit ihr kommt er auf sie zu.
    Sie fürchtet sich.
    Ohne Zielrichtung kann jeder Schritt ihr letzter sein, denn Schlammlöcher und Suhlen übersäen das Feld. Da sie nichts sieht, muss sie sich von ihren übrigen Sinnen leiten lassen und darauf vertrauen, wie sie es seit jeher getan hat, und alles Unglück instinktmäßig abwenden. Obwohl sie ohne Weiteres auf den Saum ihres Rockes treten und stürzen kann, duckt sie sich und läuft noch schneller. Vor ihr tut sich nichts außer einer schimmernd weißen Wand auf.
    Ein Vogel gibt Laut; es klingt wie ein Schrei.
    Sie bleibt stehen, schaut zum verborgenen Mond auf und schließt die Augen. Als sie einatmet, wetzt plötzlich feurige Pein wie Krallen über ihren Bauch. Was ich noch alles tun muss, denkt sie. Es darf nicht schon vorbei sein. Sie werden wissen wollen, was sie sind. Ein Augenblick vergeht in Begleitung eines Geräusches, bei dem es sich entweder um ihren schädelsprengenden Puls oder das Aufbäumen des Kindes in ihrem Leib handelt. Sie legt die Hand auf die Bauchdecke und wispert: »Sie werden dich brauchen. Sie sind auf dich angewiesen.«
    Sie friert. Der Mond lugt hinter einer Wolke hervor.
    Schatten züngeln zu ihren Füßen davon.
    Als sie ihre Augen öffnet, steht ein Mann vor ihr und lächelt. Eine Scherbe Mondlicht funkelt in seiner Hand.

    ***

    Ein Pochen an der Tür ließ Grady aus einem turbulenten Traum hochfahren. Einen Moment lang blieb er ruhig liegen und zog die Decken fest an seine Brust, um die morgendliche Kühle abzuwenden, während er darauf wartete, dass sich das ungeduldige Klopfen als zu langes Echo erwies, als bloßer Nachklang der Theatervorführung in seinem schläfrigen Kopf. Als aber das Fenster über seinem Bett mit einem neuerlichen Fausthieb gegen die Holztür im Rahmen vibrierte, setzte er sich aufrecht hin, blinzelte und stieg langsam aus dem Bett. Während er sich anzog, hörte er den Fußboden des Zimmers über seinem knarren. Mrs. Fletcher hatte der Lärm ebenfalls geweckt, was bedeutete, dass sie den ganzen Tag lang unausstehlich sein würde. Seufzend hob er die Schultern, um seinen Morgenmantel zurechtzurücken, und trat hinaus in den Flur. Das dreiste Hämmern des Beharrlichen an der Tür tönte wie gedämpfte Pistolenschüsse, weshalb sich Grady beeilte. Seinen Gelenken widerstrebte solch ungewohnte Eile allerdings.
    »Schon gut, bin unterwegs«, murrte er und winkte mit einer Hand in Richtung Tür, als könne die Luft, die er so in Bewegung setzte, dem Störenfried seine Worte übermitteln.
    Mrs. Fletchers Stimme erschreckte ihn. »Himmel hilf uns, Grady! Die verdammte Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Wer auch immer das ist, ich hoffe doch schwer, dass Sie ihm etwas erzählen, dafür, dass er das ganze Haus aus dem Schlaf gerissen hat.«
    Grady schaute über seine Schulter auf die korpulente Frau, die am oberen Treppenabsatz stand. Einige silbergraue Strähnen, die aus der zerknitterten Nachthaube
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