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Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen
Autoren: Nathalie Sarraute
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II

    Sie rissen sich von ihren Spiegelschränken los, wo sie ihre Gesichter prüfen. Sie erhoben sich auf ihren Betten. »Es ist angerichtet, es ist angerichtet«, sagte sie. Am Tisch brachte sie die Familie zusammen, denn jeder verbarg sich in seinem Winkel, einsiedlerisch, mürrisch, aufgezehrt. »Aber was haben sie doch, daß sie immer so erschöpf aussehen?« sagte sie im Gespräch mit der Köchin.
    Stundenlang sprach sie zur Köchin, immer um den Tisch herum beschäfigt, in fortwährendem Hin und Her, Arzneigetränke oder Gerichte für sie zubereitend, sprach und kritisierte die Leute, die ins Haus kamen, die Freunde: »… und bei der werden die Haare nachdunkeln, sie wird glatte Haare haben wie ihre Mutter; die haben Glück, die keine Dauerwellen brauchen.« – »Das Fräulein hat schöne Haare«, sagte die Köchin, »sie sind dicht, und sie sind schön, obwohl sie keine Wellen haben.« – »Ich bin sicher, daß der Ihnen nichts gegeben hat. Sie sind geizig, alle sind sie geizig, und sie haben Geld, haben Geld, es ist widerlich. Und sie gönnen sich nichts. Ich kann das nicht verstehn.« – »Ach nein«, sagte die Köchin, »nein, schließlich können sie es nicht mitnehmen. Ihre Tochter ist noch immer nicht verheiratet, aber sie ist nicht übel, sie hat schöne Haare, eine kleine Nase, auch hübsche Füße.« – »Ja, schöne Haare, das ist wahr«, sagte sie, »aber niemand hat sie gern, wissen Sie, sie spricht nicht an. Ach, es ist wirklich komisch.«
    Und er spürte, wie aus der Küche das niedrige, fette Denken sickerte, das immer auf der Stelle trat, trat, im Kreise drehte, im Kreis, als drehten sie sich im Schwindel und könnten nicht anhalten, als hätten sie Herzschmerzen und könnten nicht aufören, wie man sich die Nägel abbeißt, wie man die Haut in Fetzen abzieht, die sich schält, wie man sich bei Nesselfieber kratzt, wie man keinen Schlaf findet und sich im Bett wälzt, zum Vergnügen und bis zur Verzweiflung, um sich zu erschöpfen, um sich atemlos zu machen … »Aber für sie ist es vielleicht etwas anderes.« Daran dachte er, und horchte, ausgestreckt auf seinem Bett, während die Gedanken wie eine Art gifiger Geifer in ihn eindrangen, sich an ihn klebten, ihn innen überzogen.
    Da war nichts zu machen. Nichts zu machen. Sich entziehen, unmöglich. Überall, auf zahllose Weisen, »heimtückische« (»das ist heimtückisch, die Sonne heute«, sagte die Hausmeisterin, »man kann sich etwas holen. Wie mein armer Mann, und er hat sich doch so geschont …«), es erwischte einen überall, unterwegs, und sah so aus, als wäre es das Leben selber: wenn man an der Hausmeisterwohnung vorbeilief, wenn man am Telephon antwortete, mit der Familie aß, Freunde einlud oder irgend jemand anredete.
    Man mußte ihnen antworten und sie mit Güte ermutigen und vor allem, vor allem sie nicht fühlen lassen, nicht einen einzigen Augenblick, daß man sich für anders hielt. Nachgeben, nachgeben, sich zurücknehmen: »Ja, ja, ja, ja, das ist wahr, sehr richtig« – das mußte man ihnen sagen und sie mit Sympathie anschaun, mit Zärtlichkeit, sonst würde ein Riß entstehen, ein Zerwürfnis, und etwas Unerwartetes, Hefiges würde sich ereignen, etwas, das sich noch nie gezeigt hatte und das schrecklich wäre.
    Und dann, schien es ihm, würde er sie in plötzlich überschäumendem Drang, etwas zu tun, in einem plötzlichen Überschäumen von Macht mit ungeheurer Stärke beuteln wie alte schmutzige Lumpen, wringen, zerreißen, ganz und gar vernichten.
    Aber er wußte auch, daß das vielleicht eine falsche Vorstellung war. Bevor er Zeit hätte, sich auf sie zu stürzen mit sicherem Instinkt, jenem Abwehrinstinkt, jener gewandten Vitalität, die ihre Kraf so beunruhigend machte, hätten sie sich gegen ihn gewendet und schlügen ihn, er wußte nicht wie, mit einem Schlag zu Boden.

III

    Sie hatten sich in kleinen, stillen Straßen eingerichtet, hinter dem Pantheon, neben der Rue Gay-Lussac oder der Rue Saint-Jacques, in Wohnungen, die auf düstere Höfe gingen, aber ganz anständig und bequem waren.
    Das bot man ihnen hier, das und die Freiheit, zu tun, was sie wollten, in den bescheidenen kleinen Straßen herumzugehn, wie sie wollten, gleichgültig in welchem Aufzug, mit welchem Gesicht. Man verlangte keinerlei Haltung von ihnen, keinerlei Tätigkeit, die sie mit anderen gemeinsam hätten, kein Gefühl, keine Erinnerung. Man bot ihnen die nackte, aber eine zugleich geschützte Existenz, eine Existenz, die an
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