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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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1
Montreal, 1996
    Auf den ersten Blick verwechselte sie ihn mit irgendetwas. Im winterlichen Dämmerlicht hätte er auch ein Ast oder ein Holzscheit, ja, selbst ein Reifen sein können. In all den Jahren, die sie nun auf dem Mount Royal langlaufen ging, hatten schon ganz andere Dinge ihren Weg gekreuzt. Die Leute verloren ihre Schals, ihre Schuhe, ihre Hemmungen: Sie war auf Menschen gestoßen, die unter freiem Himmel miteinander schliefen, selbst bei bitterer Kälte. Trotz dieser Zwischenfälle war der Berg der einzige Ort, wo sie sich wirklich eins mit sich fühlte, insbesondere im Winter, wenn sie durch die kahlen Zweige der Bäume die Stadt unten im Tal sehen konnte – die Kirchen mit den grünen Turmspitzen und die grauen Wolkenkratzer, die zum Greifen nah schienen, die Straßen, die sich bis zum alten Hafen erstreckten, und links und rechts die Brücken, die sich über die fahlen Wasser des St.-Lorenz-Stroms spannten. Der Winter war mild gewesen; was an Schnee fiel, war erst geschmolzen und hatte sich dann über Nacht in Eis verwandelt. Nun, Ende Januar, hatte es schließlich über Nacht und dann den ganzen Tag geschneit, zumindest genug, um langlaufen gehen zu können. Glücklicherweise war ihr letzter Nachmittagstermin abgesagt worden, sodass sie auf den Berg fahren konnte, ehe es dunkel wurde. Sie umrundete das Chalet und machte sich in den Wald auf; nun hatte sie keinen Blick auf Montreal mehr, vielmehr war sie umfangen von dumpfer Stille und Einsamkeit, während die Bäume das Licht noch weiter abschwächten.Parallelspuren im Schnee verrieten, dass ein anderer Skifahrer vor ihr hier entlanggefahren war. An einem nicht allzu steilen Abhang ging sie leicht in die Hocke und gewann an Schwung, während sie sich in die nächste Kurve legte.
    Als sie den Ast erspähte – oder was auch immer es sein mochte –, war es zu spät. Obwohl sie noch abzubremsen versuchte, hatte sie zu viel Tempo drauf und krachte geradewegs in das Hindernis. Sie wurde aus den Bindungen gerissen, fiel seitwärts in den Schnee und begriff erst, als sie sich aufsetzte, dass sie über den Körper eines Mannes gestürzt war. Ihre Beine befanden sich über den seinen, und in ihrem rechten Knie verspürte sie ein schmerzhaftes Pochen.
    Es brannte in ihren Lungen, als sie Luft holte. Als sie wieder zu Atem gekommen war, fragte sie: «Alles in Ordnung mit Ihnen?»
    Sie erhielt keine Antwort. Er lag quer auf der Piste, sein Kopf war halb im Schnee begraben. Jenseits seines Körpers endeten die Skispuren. Im ersten Moment dachte sie, er wäre verunglückt, doch dann erblickte sie seine Skier, die akkurat nebeneinander an einem Baum lehnten.
    Sie rappelte sich auf und trat vorsichtig um ihn herum, bis sie sein Gesicht sehen konnte. Er trug keine Mütze. «Hallo?», sagte sie ein wenig lauter. «Alles in Ordnung mit Ihnen?» Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten. Er lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen und geschlossenen Augen, einen Arm über dem Kopf.
«Monsieur?»
, sagte sie.
«Ça va?»
    Als sie sich hinkniete, um ihm den Puls zu fühlen, bemerkte sie den Strick um seinen Hals – ein dickes, geflochtenes Seil, das halb unter ihm lag und sich regelrecht an seinen Arm schmiegte, während das andere Ende in einer Schneewehe ruhte, nein, gleichsam darunter verschwand. Und dann erblickte sie auch den abgebrochenen Ast, an den es geknüpft gewesen war.
    Hastig lockerte sie den Strick, spürte den Puls an seinem Hals und öffnete rasch die obersten Knöpfe seiner Jacke in der Hoffnung,ihm dadurch das Atmen zu erleichtern. Sein Gesicht war nicht blau. Er war in ihrem Alter, vielleicht Mitte dreißig, sein kurzes, lockiges braunes Haar schon leicht grau meliert. Doch er öffnete die Augen immer noch nicht. Sollte sie ihm ein paar Klapse auf die Wangen geben? Es mit Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen? Behutsam drehte sie ihn auf den Rücken.
«Monsieur?»
, wiederholte sie. Er regte sich nicht.
    Sie schnallte ihre Ski wieder an, fuhr zurück zum Chalet und wählte 911. In ihrem stockenden Französisch – es klang noch gebrochener, weil sie außer Atem war – versuchte sie, ihre Position zu beschreiben. Bei ihrer Rückkehr lag er immer noch da, wo sie ihn gefunden hatte. «Sir», sagte sie. «Ich heiße Grace.
Je m’appelle Grace
. Ich habe Hilfe gerufen. Alles wird wieder gut.
Vous êtes sauvé.»
    Sie legte das Ohr an seinen Mund, um seinen Atem hören zu können. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen, doch
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