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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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mich hauptsächlich von Kartoffelpüree mit Käse aus der Tüte. Dann ging der Abend weiter. Ich war nicht unglücklich, ich hatte hundertachtundzwanzig Kanäle. Gegen zwei Uhr morgens gab ich mir den letzten Kick mit türkischen Musikkomödien.
        So verliefen ein paar Abende ziemlich friedlich, ehe ich einen erneuten Anruf von Hauptmann Chaumont erhielt. Die Ermittlung war gut vorangekommen, sie hatten den mutmaßlichen Mörder gefaßt, es war sogar mehr als ein Verdacht, der Mann hatte die Tat gestanden. Sie wollten in zwei Tagen einen Lokaltermin durchführen, ob ich daran teilnehmen möchte. O ja, sagte ich, o ja.
        Marie-Jeanne beglückwünschte mich zu diesem mutigen Entschluß. Sie sprach von Trauerarbeit, vom Rätsel der Abstammung; sie benutzte gesellschaftlich akzeptable, aus einem begrenzten Register stammende Wendungen, aber das war unwichtig: Ich spürte, daß sie eine gewisse Zuneigung für mich hegte, das überraschte mich, tat mir aber gut. Frauen können trotz allem noch Zuneigung hegen, sagte ich mir, als ich in den Zug nach Cherbourg stieg. Selbst im Beruf tendieren sie dazu, affektive Beziehungen zu entwickeln, sie haben Schwierigkeiten, sich in einer Welt zu bewegen, in der es keine affektiven Beziehungen gibt, das ist eine Atmosphäre, in der sie sich nur schwer entfalten können. Sie leiden unter dieser Schwäche, die Rubrik »Seele &. Gemüt« in Marie Claire stößt sie immer wieder darauf: Sie täten besser daran, den beruflichen und den affektiven Bereich deutlich zu trennen ; aber es gelingt ihnen nicht, und die Rubrik »Liebe & Sex« bestätigt das mit gleicher Regelmäßigkeit. Auf der Höhe von Rouen ging ich nochmals die Einzelheiten der Affäre durch. Die große Entdeckung, die Hauptmann Chaumont gemacht hatte, bestand darin, daß Aïcha eine »intime Beziehung« mit meinem Vater unterhalten hatte. Wie häufig und in welcher Form? Das wußte er nicht, und das stellte sich auch für den Fortgang der Ermittlungen als nebensächlich heraus. Einer von Aïchas Brüdern gab sehr bald zu, daß er den alten Mann aufgesucht hatte, »um eine Erklärung zu verlangen«, und daß das Gespräch ausgeartet war und er ihn leblos auf dem Betonboden des Heizungskellers zurückgelassen hatte.
        Der Lokaltermin wurde im Prinzip vom Untersuchungsrichter durchgeführt, einem kleinen hageren, strengen Mann, der eine Flanellhose und ein dunkles Polohemd trug und dessen Gesicht ständig von einem gereizten, krampfhaften Lächeln verzerrt wurde; aber Hauptmann Chaumont setzte sich schnell als der eigentliche Zeremonienmeister durch. Lebhaft und munter empfing er die Teilnehmer, sagte zu jedem ein Wort des Willkommens, führte sie an ihren Platz: Er machte einen äußerst glücklichen Eindruck. Es war sein erster Mordfall, und er hatte ihn in einer knappen Woche gelöst. In dieser finsteren, banalen Geschichte war er der einzige wirkliche Held. Sichtlich bedrückt, das Gesicht von einem schwarzen Kopftuch umrahmt, saß Aïcha in sich zusammengesunken auf einem Stuhl und hob bei meiner Ankunft kaum die Augen; sie wandte ostentativ den Blick von der Stelle ab, an der ihr Bruder stand. Der war von zwei Gendarmen eingerahmt und starrte mit bockiger Miene zu Bo den. Er hatte ganz das Aussehen eines gewöhnlichen kleinen Rohlings; ich empfand nicht die geringste Sympathie für ihn. Als er die Augen hob, kreuzte er meinen Blick und erkannte mich sicher. Welche Rolle ich hier spielte, wußte er, man hatte ihn bestimmt eingeweiht: Seinen brutalen Vorstellungen zufolge hatte ich ein Anrecht auf Rache, ich konnte Rechenschaft für das Blut meines Vaters fordern. Mir war die Beziehung klar, die sich zwischen uns herstellte, ich sah ihn starr an, ohne die Augen abzuwenden; langsam ließ ich in mir den Haß hochsteigen und atmete freier, es war ein angenehmes, starkes Gefühl. Hätte ich eine Waffe zur Hand gehabt, ich hätte ihn ohne zu zögern niedergeknallt. Diesen kleinen Dreckskerl zu töten erschien mir nicht nur als eine banale, sondern als eine wohltuende, positive Handlung. Ein Gendarm zeichnete mit Kreide Markierungen auf den Boden, und die Rekonstruktion begann. Nach Aussage des Angeklagten lag die Sache ganz einfach: Im Laufe der Diskussion hatte er sich aufgeregt und meinen Vater mit Gewalt zurückgestoßen. Dieser war nach hinten gefallen, sein Schädel war auf dem Boden zerschmettert; in panischer Angst hatte er sofort die Flucht ergriffen.
        Selbstverständlich log er, und
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