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Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Sabine Martin
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P ROLOG
    A UGUST 1341/E LUL 5101
    Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein gewaltiges Brummen, einförmig und doch vielstimmig. Der Himmel wölbte sich tiefschwarz über ihm, eine Wolke aus unzähligen Leibern verdunkelte die sengende Augustsonne.
    Karl unterdrückte den Drang, sich die Ohren zuzuhalten, und reckte sein Gesicht dem Schwarm entgegen. Heuschrecken, so weit das Auge reichte, Abermillionen zierliche Körper mit schillernden Flügeln – jedes einzelne Tier ein zartes, filigranes Kunstwerk, in der Masse jedoch ein tödlicher Feind, der sich durch sattgrüne Weiden und goldene Felder fraß und ganze Regionen in Hunger und Verzweiflung stürzte.
    Karl straffte die Schultern, die vibrierenden Leiber berührten sein Gesicht, ließen sich auf seinen Armen und seinem Wams nieder, Flügel streiften seine Wangen, winzige Beine krabbelten über die nackte Haut an seinem Hals und plagten seine Nase mit einem infernalischen Gestank, so, als kämen diese Wesen direkt aus der Hölle. Aber dem war nicht so. Im Gegenteil: In jeder einzelnen dieser zarten Gestalten steckte die Allmacht Gottes. Nie zuvor hatte Karl das so stark empfunden wie in diesem Augenblick. Er schwang sich von seinem Wallach und lief auf den einsamen Hügel zu, der sich über dem Berounkatal erhob, stürmte mitten hinein in die wogenden Leiber.
    »Herr, seid Ihr von Sinnen? Kommt zurück! Wir sollten umkehren, bevor diese Plage uns mit ihrem teuflischen Odem vernichtet!«
    Karl lachte auf und wandte sich seinem Begleiter zu. »Mein guter Montfort, ist Euer Glaube so schwach? Ich dachte, Ihr wäret ein Mann Gottes?«
    Montfort schlug nach einer Heuschrecke, die sich in seinem Habit verfangen hatte. »Der bin ich in der Tat, Eure Majestät. Und genau aus diesem Grund fürchte ich seinen Zorn.« Seine Stimme wurde schrill. »Der Heuschreckenschwarm ist der nächste Vorbote der Apokalypse, Herr. Denkt an das Magdalenen-Hochwasser, das nur wenige Jahre zurückliegt! Tausende sind ertrunken! Doch die Menschen haben sich Gott nicht zugewandt. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor. Der Herr im Himmel zürnt uns, weil wir nach wie vor in Sünde und ohne Demut leben.«
    Karl fing mit der Hand eine Heuschrecke ein und betrachtete den grünlich schillernden Körper. »Mir zürnt der Herr nicht, Montfort. Im Gegenteil, er hat Großes mit mir vor. Gerade erst hat er meinen Vater für seinen gottlosen Lebenswandel mit dem Verlust des Augenlichts bestraft. An seiner Stelle werde ich nun das Land regieren, und glaubt mir, ich werde Böhmen zu einem wahren Reich Gottes machen.« Er warf das Tier in die Luft. »Nicht nur Böhmen!«, schrie er dem Orkan der Heuschrecken entgegen. »Das gesamte Heilige Römische Reich! Ich werde mich zum Kaiser krönen lassen und dafür sorgen, dass die Ehrfurcht vor dem Herrn und seinen heiligen Gesetzen überall Einzug hält und dass die Menschen erkennen, dass Gottes Werk sich in jeder seiner Kreaturen offenbart. Das werde ich, so wahr mir Gott helfe!«
    »Amen«, rief Montfort und bekreuzigte sich ein wenig zu schnell, so, als sei er nicht überzeugt von dem, was sein König sagte.
    Karl unterdrückte ein Schmunzeln. Louis de Montfort war ein kluger, gebildeter Mann und der beste Ratgeber, den ein König sich wünschen konnte, doch er war ein Feigling. Unbeirrt wandte Karl sich ab und stapfte den Hügel hinauf. Die Heuschrecken ängstigten ihn nicht. Im Gegenteil, sie waren ein Zeichen der grenzenlosen Macht des himmlischen Herrn. Und dieser Herr war ihm wohlgesinnt, dessen war er sich sicher. Auf der Kuppe hielt Karl schnaufend inne. Von hier oben sah der Schwarm weit weniger bedrohlich aus, viel kleiner wirkte er, als wenn man mitten darin stand, kaum größer als ein schwarzer Nebelstreif über dem Tal. Man musste nur hoch genug hinaufsteigen, über den Dingen stehen, dann rückten sie an ihren rechtmäßigen Platz. Und es war nicht das erste Mal, dass Heuschrecken das Land plagten. Auch dieser Schwarm würde sich bald auflösen wie Nebel in der Morgensonne. Die Zeiten waren nicht leicht. Die Winter wurden immer kälter, die Sommer feuchter. Gott prüfte die Menschen, wie so oft.
    »Sein Wille geschehe«, murmelte Karl in das Rauschen des Windes und der Heuschrecken. Er breitete die Arme aus. Sein rechtmäßiger Platz war hier oben, an der Spitze seines Reiches. Und hier würde er seine Burg bauen, Burg Karlstein. Gott hatte ihn hierhergeführt und ihm damit aufgetragen, eine sichere Trutzburg für die Insignien des Reiches und den
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