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Titel: Plattform
Autoren: Michel Houellebecq
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Die Menschen dort hatten sicherlich ein Schicksal, ein Leben, soweit das Niveau ihrer Einkünfte es ihnen erlaubte; aber nach dem wenigen zu urteilen, was ich über sie wußte, hätten sie genausogut eine Schar Lemminge sein können.
        Ich nahm mir ein Zimmer im Amari Boulevard, in dem Hotel wohnten vor allem japanische Geschäftsleute. Dort hatte ich beim letzten Mal mit Valérie und Jean-Yves gewohnt. Das war keine gute Idee. Zwei Tage später zog ich ins Grace Hotel; das lag nur etwa fünfzig Meter davon entfernt, aber die Atmosphäre dort war spürbar anders. Es war vermutlich das letzte Hotel in Bangkok, in dem man noch arabische Sextouristen antreffen konnte. Sie schlichen jetzt auf leisen Sohlen daher und verließen so gut wie nie das Hotel - das eine Diskothek und einen eigenen Massagesalon besaß. Manchmal traf man noch den einen oder anderen in den umliegenden Gassen an, in denen es KebabVerkäufer und mehrere call center gab; aber keiner von ihnen
    traute sich, diesen Umkreis zu verlassen. Ich stellte fest, daß ich mich, ohne es zu wollen, dem Bumrungrad Hospital genähert hatte.

        Man kann allein dadurch am Leben bleiben, daß man von einem Gefühl der Rache erfüllt ist; viele Menschen haben so gelebt. Der Islam hatte mein Leben zerstört, und der Islam war sicherlich etwas, was ich hassen konnte. In den folgenden Tagen bemühte ich mich, die Muslime zu hassen. Es gelang mir ganz gut, und ich begann wieder die Nachrichten aus aller Welt zu verfolgen. Jedesmal wenn ich erfuhr, daß ein palästinensischer Terrorist, ein palästinensisches Kind oder eine schwangere Palästinenserin im Gazastreifen erschossen worden war, durchzuckte mich ein Schauder der Begeisterung bei dem Gedanken, daß es einen Muslim weniger gab. Ja, man konnte auf diese Weise leben.
        Eines Abends verwickelte mich ein jordanischer Bankier im coffee-shop des Hotels in ein Gespräch. Er war ein leutseliger Mensch und bestand darauf, mich zu einem Bier einzuladen; vielleicht machte ihm das zurückgezogene Dasein, das er im Hotel führen mußte, allmählich zu schaffen. »Ich kann die Leute verstehen, man kann ihnen keine Vorwürfe machen«, sagte er zu mir. »Wir haben es uns in gewisser Weise selbst zuzuschreiben. Dies ist kein islamisches Land, es besteht überhaupt kein Grund dafür, daß wir Hunderte von Millionen ausgeben, um den Bau von Moscheen zu finanzieren. Ganz zu schweigen von dem Attentat natürlich... « Als er sah, daß ich ihm aufmerksam zuhörte, bestellte er ein zweites Bier und wurde kühner. Das Problem der Muslime, erklärte er mir, liegt darin, daß das Paradies, das der Prophet versprochen hat, bereits im Diesseits existiert: Es gab Orte auf dieser Welt, wo bereitwillige, lüsterne Mädchen für das Sinnenvergnügen der Männer tanzten und wo man sich am Nektar berauschen und dabei Musik mit himmlischen Klängen lauschen konnte; es gab davon über zwanzig in einem Umkreis von fünfhundert Metern rings um das Hotel. Diese Orte waren leicht zugänglich; um eingelassen zu werden, brauchte man nicht die sieben Pflichten des Muslims zu erfüllen und auch nicht in den heiligen Krieg zu ziehen; man brauchte nur ein paar Dollar zu bezahlen. Man brauchte nicht einmal zu reisen, um das herauszufinden; es genügte, wenn man eine Parabolantenne besaß. Für ihn gab es keinen Zweifel, das islamische System hatte keine Zukunft: Der Kapitalismus würde siegen. Schon heute träumten die jungen Araber nur noch von Konsumgütern und Sex. Auch wenn sie manchmal das Gegenteil behaupteten, insgeheim träumten sie davon, dem amerikanischen Modell zu folgen : Die Aggressivität, die manche von ihnen zur Schau stellten, sei nur ein Zeichen ohnmächtiger Eifersucht; zum Glück kehrten immer mehr von ihnen dem Islam ganz einfach den Rükken. Er selbst habe kein Glück gehabt, er sei inzwischen ein alter Mann und sei das ganze Leben lang gezwungen gewesen, sich auf eine Religion einzulassen, die er verachtete. Ich befand mich in einer ähnlichen Lage wie er: Es würde bestimmt einen Tag geben, an dem die Welt vom Islam erlöst sein würde; aber für mich wäre das zu spät. Ich hatte kein richtiges Leben mehr. Ein paar Monate lang hatte ich ein richtiges Leben kennengelernt, das war schon gar nicht so schlecht, das konnte nicht jeder von sich behaupten. Die fehlende Lust am Leben reicht leider nicht aus, um sterben zu wollen.
        Ich sah ihn am folgenden Tag wieder, kurz bevor er nach Amman zurückflog; er mußte
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