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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman
Autoren: A1 Verlag GmbH
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Die Vorgeschichte
23. Dezember 1947
    Es muss fünf vor sieben gewesen sein. Victor Coutinho kehrte gerade von der Tagesschicht in der Air-India-Werkstatt zurück. Parvati Pawar wartete, ihren dreizehn Monate alten Sohn Ram in den Armen, auf dem Balkon des Central-Works-Department- chawls Nr. 17 auf ihren Mann. Von morgen an hatte Victor wieder Nachtschicht, und der Gedanke, dass er Parvati Pawar einen ganzen Monat lang nicht zu Gesicht bekommen würde, deprimierte ihn. Jeden Tag fasste er erneut den festen Entschluss, sie anzusprechen, wenn sie so im vierten Stock auf dem Balkon stand, als würde sie auf ihn warten. Eigentlich sollte es nicht allzu schwierig sein, das Eis zu brechen. Sie hatten so viel gemeinsam.
    Ihr Sohn und meine Tochter sind fast gleichaltrig. Sind sie am Ende im selben Monat geboren? Wer weiß, vielleicht sogar am selben Tag. Ist Ihr Sohn um sechs Uhr früh geboren? So ein Zufall! Unsere Pieta auch. Stillen Sie ihn noch immer? Meine Frau Violet hat darauf bestanden, dass Pieta mit acht Monaten auf feste Nahrung umgestellt wurde. Hat eine geschlagene Woche lang das ganze Haus zusammengebrüllt. Sie müssen sie bestimmt gehört haben. Ständig will sie gehätschelt werden. Ihr Sohn ist da genau das Gegenteil. Soo brav! Nicht wahr, du braves Bübchen, hubbel bubbel, hubbel bubbel? Ganz Ihr Ebenbild, haargenau. Die gleichen großen Augen mit den langen Wimpern. Eine schöne Stirn. Das gleiche verschmitzte Lächeln. Obwohl, Ihre Paradiesapfelbrüste hat er natürlich nicht – apfelrund, apfelfest –, dürfte ich mal drücken?
    Victor hätte stundelang mit Parvati plaudern können. Aber wer hätte sein Konkani oder Englisch schon für sie ins Marathi übersetzen sollen? Ach, wenn er sich bloß getraut hätte, er wäre mit seinem gebrochenen Hindi schon irgendwie zurechtgekommen. Sie hätten sich ewig über ihre Babys unterhalten können, deren Schlafgewohnheiten, deren Temperamente und Unarten, das erste Wort, das sie jeweils gesagt hatten, miteinander vergleichen können.
    Mach schon den Mund auf, Victor, red, sag was, was auch immer, redete er sich zu, während er Parvatis Rücken, oben im vierten Stock, beäugte. Geh ran, Victor. Sei ein Mann. Fall auf die Knie, los. Sag ihr, wie sehr du sie liebst, gesteh’s, gesteh’s, gesteh’s. Sag ihr, dass du nicht einen Tag länger ohne sie leben kannst. Sag ihr, dass sie dich mittlerweile bereits im Traum heimsucht. Erklär ihr, dass du deine Frau liebst, dass es aber nichts in der Richtung ist, nichts Körperliches; dass du lediglich schlichtweg verrückt vor Lust auf sie bist. Ruf sie an, auch wenn sie gar kein Telefon hat und du ebenso wenig. Schaff dir eben eins an. Schreib ihr einen Brief. Sag ihr, dass du ein einsamer Mann bist, der sich in eine einsame hinreißende Frau verliebt hat. Sprich sie auf dem Korridor an, begegne ihr zufällig auf dem Markt und kauf Kohl und Chilis mit ihr, stell dich im Maruti- Tempel neben sie, begleite sie zur Kornmühle, bitte sie, mit dir zu den Andamanen-Inseln zu fliegen. Victor, Victor, Victor, deinem Namen wirst du nicht gerecht, du bist der geborene Verlierer.
    Wie sollte Victor nur den Abgrund überwinden, der den fünften Stock von allen Stockwerken darunter trennte? Schon einige Male war er, als Parvati sich von der Brüstung abgewandt und ihn gesehen hatte, über eine Stufe gestolpert oder hatte weggeschaut und sich beeilt, die Treppe hinter sich zu bringen. Letzte Chance, Victor, heute ist deine letzte Chance, versuchte er sich mit jedem weiteren Schritt zum Handeln anzuspornen. Als er direkt unter Parvati- bai stand, ging ihm auf, wie wirklichkeitsfern seine Wunschträume waren. Er schaute nach oben. Was er sah, raubte ihm alle Kraft. Seine Augen hefteten sich auf Parvatis Brüste. Es war ein ausladender Busen. Er war so üppig und so hochgewölbt, dass man davon, obwohl Parvatis Leibchen gar nicht tief ausgeschnitten war, eine gewaltige Menge zu sehen bekam. Er war wie ein kühles, erquickendes Glas Limettensaft mit Honig für einen müden Wanderer. Ein Altar, vor dem die Lahmen und die Gebrechlichen wieder genesen konnten. Ein weicher Landeplatz für diese neuen Maschinen, die Air India sich gerade anschaffte. Er hob und senkte sich mit erfreulicher Regelmäßigkeit.
    Victors Hände schossen in die Höhe und winkten Parvatis Sohn zu. „Komm, Baba , komm. Komm,
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