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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia
Autoren: Robin Felder
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mein weißes, teilweise zugeknöpftes Hemd über und stecke meinen rechten Arm inmein anthrazitfarbenes Sakko. Ich drehe die rechte Manschette um ein paar Grad. Dann die linke. Recke meinen Kopf zum Schließen des zweitobersten Hemdknopfes. Meine Krawatte lege ich mir wie ein Handtuch um den Hals. Auf das Binden des zweifachen Windsor-Knotens, den ich zu dunklen Anzügen und einfarbiger Krawatte bevorzuge, verzichte ich. Zugunsten raschen Verschwindens. Verabschiedend schaue ich Barbarella noch mal aufmerksam an, um sie für immer zu vergessen. Luftküsschen. Muss los. Ihren Namen werde ich wohl nie erfahren. Die Klinke ist traumhaft leise. Ich ziehe die Tür auf. Die beiden Staubballen unter dem Standspiegel zucken und kriechen in den Luftwirbel. Ich wende mich ab, Blick in Fluchtrichtung.
    Der Bordstein liegt genau auf Höhe meiner Augen. Noch mehr Schien- und Wadenbeine laufen im herbstlichen Nebel an mir vorbei. Diesmal mit Klanguntermalung. Die Schrittgeräusche, das Klackern der Absätze, alles klingt seltsam differenziert. Als könnte ich jeden auftretenden Schuh einzeln zuordnen. Ich bin draußen. Nichts wie weg. Langsam schließe ich die Tür, die in entgegenkommend geräuschlosen Angeln hängt. Kurz bevor das Schloss einschnappt, ballen sich meine Kiefermuskeln. Durch den Spalt höre ich eine weibliche Stimme aus der Wohnung dringen.
    Ein argwöhnisches, hochgezogenes »Tschüss«.

02
    Nur häppchenweise lässt sich die Oktoberluft atmen, so kalt ist es. Ich nehme die eins, drei, fünf Stufen nach oben, gelange auf Bodenniveau und stehe auf dem Gehsteig einer befahrenen Straße. Ein fehlzündendes Moped rauscht vorbei. Der befreiende Moment des Entkommens gewährt mir eine nurallzu kurze Erleichterung. Denn schon setzt eine verstärkte Gedankentätigkeit ein, und ich beginne nach Anhaltspunkten zu suchen, anhand derer ich das schwarze Loch meines Erinnerungsausfalls rekonstruieren könnte. Doch ich habe keine Zeit, unsicher zu werden. Muss weiter.
    Ich drehe mich noch mal um, sehe hinunter auf die Souterraintür, kneife die Augen zusammen und strecke dabei mein Kinn vor. CL steht auf dem Klingelschild aus goldfarbenem Messing. Nichts sonst. CL kann eine Menge heißen. Initialen an der Tür suggerieren definitiv Bedeutsamkeit.
    In dem Moment, in dem ich mich wieder abwende, knattert ein Sattelschlepper vorbei, sein schmutziger Wind stinkt unmittelbar nach Diesel. Ich schüttle mein Jackett zurecht, schlage den Kragen hoch, scheine mich dahinter zu verstecken und bewege mich Schritt für Schritt weg von meiner Nachtunterkunft. Meine Gedanken entfernen sich noch viel schneller von ihr.
    Die Atmosphäre wiegt schwer wie Blei. Alles wirkt wie von einem Dunstschleier überzogen. Fahler Grünstich. Wie nachkoloriert und künstlich vernebelt. Es ergeben sich tausend Schattierungen von entsättigtem Grün. Und letztlich doch so grau wie die Wohnung, aus der ich komme.
    Zum Glück muss ich erst jetzt niesen. Und noch mal. Und noch mal. Unterdrücken zwecklos. Bei mir bleibt’s nie bei einem Mal.
    Die nächsten Minuten gehe ich ziellos geradeaus und malträtiere meinen Verstand regelrecht, wo ich mich aufgehalten haben könnte. Doch meine Hirnregionen geben nichts frei. Was für ein Systemabsturz! Kein lichter Moment. Nicht mal eine schemenhafte, ungenaue Ahnung. Nicht mal das. Gar nichts. Montagabend, das ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Die Feier zu meiner Beförderung. Im Restaurant des Charles Hotel. Das Essen, Acht-Gänge-Menü, neunzehn Personen,danach in die Bar. Aus. Das ist der Schlusspunkt. Mehr ist da nicht. Ich kann mich
einfach an nichts erinnern
. Mir wird mehrfach angst und bange. Und ich ertappe mich dabei, wie ich einer Erkenntnis den Zugang verweigere. Eine Erkenntnis, die mich neuerdings immer öfter zu erreichen versucht.
    Ich setze an, die Straße zu überqueren, werde vom wilden Gehupe eines Linienbusses zurückgescheucht, hebe entschuldigend meinen Arm zum Busfahrer und laufe neben dem wieder beschleunigenden Riesenkasten hastig weiter, bis er mich überholt hat und ich, diesmal aufmerksamer, über die Straße gehe. Ich sollte mich fassen.
    Priorität Nummer eins, mich orientieren, lokalisieren und aus dieser hilflosen Situation befreien. Wegweiser finden. So was wie eine Stadtplantafel mit einem roten »Sie sind hier«-Klebepunkt.
    Die Straße ist eher eine breite Allee und wird gesäumt von mehrstöckigen bürgerlichen Altbauten. Monolithisch dastehende Senioren der
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