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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia
Autoren: Robin Felder
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01
    Wo bin ich? Meine Augen halb geöffnet, wandert mein Blick ziellos suchend umher. Wo bin ich? Wenn ich erst mal weiß, wo ich mich befinde, werde ich bestimmt auch erfahren, wie ich hierhergekommen bin.
    In dem grauen Satin-Kissen hinterlasse ich eine Mulde, als ich meinen Kopf leicht anhebe und auf das Nachtkästchen schiele. Neben zwei flachen Tablettenpackungen und einem Restaurantführer entdecke ich mein Handy und greife danach. Ich richte meinen Oberkörper auf, klappe das Display hoch und prüfe die Uhr. Die Welt bekommt einen zeitlichen Rahmen. 10 Uhr 36.
    Geweckt wurde ich eben von einem Traum. Meinem altbekannten Falltraum. Ich stürze kopfüber von der Bahnsteigkante eines S-Bahnhofs, nächtliche ländliche Gegend. Und bevor ich in dem Schotter der Gleise lande – zack –, kurz vor dem Aufprall, wache ich auf. Habe ich jede Nacht mindestens einmal. Richtig ruhig kann ich nur tagsüber schlafen.
    Ich reibe mir die Augen, das hilft aber auch nichts. Würde sagen, ich bin in einem desolaten Zustand. Bringe mich auf der Bettkante in Sitzposition. Meine nackten Zehen berühren den grauen, kalten Estrich-Fußboden. Erst der linke Fuß, dann der rechte. Abergläubisch bin ich nicht. Das Zimmer ist hell. Was heißt Zimmer? Ein riesiger Raum, grau in grau, hellgraue Betonwände, steingraue Decke. Eher ein Loft. Eine grau-weiße Kochnische weit entfernt am anderen Ende der Wand, an der auch eine schmale Couch steht. Grau. Ein wandfüllendes Ölgemälde ohne Rahmen. Modern, abstrakt, die Grundfarbe istgleichzeitig das Motiv. Der Titel: »Asche im Nebel«. Ist geraten.
    Stilbruch lässt sich dem Innenarchitekten nicht vorwerfen. Die Kundenvorgabe könnte gelautet haben: bewusstes Understatement, inszenierte Lässigkeit, heruntergekommene Hightech-Bohemien-Künstler-Fashion-Atmosphäre. So jedenfalls ist es gedacht gewesen. Siehe auch: Es war sicher teuer, es so billig aussehen zu lassen.
    Weiter drüben steht eine fahrbare Kleiderstange mit wenigen farblosen Fetzen, die wie schlaffe Liliputaner an dünnen Drahtbügeln hängen. Daneben ein Standspiegel, zu dessen Rollenfüßen zwei tischtennisballgroße Steppenläufer am Boden liegen. Haar- und Hausstaubknäuel.
    In der Mitte des Raums, auf einem weiß getünchten Sockel, der Blickfang: die lebensgroße Skulptur eines halbnackten Römers im Lendenschurz, der zum Diskuswurf ansetzt.
    Durch die eins, zwei, drei, vier Fenster kann ich erkennen, dass Vormittag ist. Das stimmt mit der Uhrzeit schon mal überein. Die knapp unter der Decke endenden Scheiben geben den lautlosen Blick frei auf vorbeieilende High Heels, Sneakers, Stiefel, Lederslipper, Knöchel, Socken und Hosenbeine ansonsten körperloser Passanten. Menschen vom Schuh bis zum Knie. Ich befinde mich also in einem Souterrain-Loft. Oder Tief-Parterre. Oder Halb-Keller. Warm ist es. Und etwas feucht.
    Langsam drehe ich meinen Kopf um 90 Grad, dabei kratze ich mich am Nacken. Nicht, dass es gejuckt hätte.
    Wen haben wir denn da? Auf der anderen Seite der französischen Kingsize-Matratze liegt eine brünette Gazelle, so dürr, dass es sich bei ihr entweder um eine dem Tod Geweihte oder ein Topmodel handelt. Hohe Wangenknochen. Fein gemeißelte Züge, fast wie retuschiert. 1,82 Meter groß. Mindestens. Kategorie A-Mensch. Grundsätzlich finde ich ja, dass dünneFrauen angezogen und fülligere Frauen ausgezogen am besten aussehen. Ich werde nach und nach wach.
    Sie tut so, als würde sie schlafen. Macht sie gut. Würde sich ihr Brustkorb nicht minimal heben und senken, könnte man auch annehmen, sie sei tot. Auf die Weltbevölkerung umgesetzt, begehen, statistisch gesehen, von einhunderttausend Menschen fünf Frauen Selbstmord – dem stehen 19 Männer gegenüber. Dabei wählen Männer konsequentere Methoden, wie Erschießen und Erhängen, wohingegen Damen lieber eine Überdosis Schlafmittel einwerfen. So viel dazu.
    Ich stiere die Bohnenstange, die keinen Mucks von sich gibt, forschend, aber vorsichtig an, um sie mit meinem Blick nur ja nicht aufzuscheuchen. Ihre Körperhaltung vermittelt einen bewusst zur Schau gestellten Eindruck. Wie jemand, der ziemlich stolz auf seine äußere Erscheinung ist. Phänomen der Jetztzeit: stolz auf Dinge sein, für die man nichts kann.
    Und strenggenommen kann man für nichts was.
    Innerhalb des Spielraums, den ein hübsches Gesicht hat, erkenne ich eine Neigung zu Kombi-Lippen: dicke Unterlippe, dünne Oberlippe. Aber eben in dem Rahmen, der die Attraktivität nicht
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