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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia
Autoren: Robin Felder
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Sicherheit der einzige Normalsterbliche gewesen. Sklave, Bauer oder Krüppel. Alle anderen: Künstler, Hochwohlgeborene, historische Persönlichkeiten. Der Rückblick der Wiederauferstehungs-Gläubigen geht interessanterweise meist nur zurück bis ins 15. Jahrhundert, selten dahinter und nie weiter als bis zum Jahre Null. Denn weiter reicht der kulturelle Horizont nicht. Alles davor ist auch zu unromantisch.
    Zur großen Überraschung von absolut niemandem hält sie ihr Buch auch noch in die Kamera und grinst, als würde sie nicht anbiedernd rüberkommen wollen und die Präsentation eigentlich ironisch meinen. Zielgruppe des Buchs sind übrigens all die wundervollen Menschen, »die offen sind«. Offen, ja, vor allem am Arsch.
    In mich versunken sitze ich hinter der Bühne und starre auf den Flimmerkasten vor mir. Ich bin um meine Zuhörerrolle nicht zu beneiden. Wie schlecht darf Gutmenschen-Fernsehen sein?
    Die scheinbar grundgesetzlich verankerte Moderatorenfrage »Wie muss man sich das vorstellen?« fällt. Mich schaudert.
    In dem Moment, in dem die sagenhaft miese Schauspielerin an den Talk-Tisch geholt wird, klingelt mein Handy, und ich erschrecke ganz fürchterlich, habe ich doch trotz Hinweis vergessen, es auszumachen. »Klaas Weber« erscheint auf dem Display, und ich erschrecke noch mehr. Noch bevor ich abhebe, schwant mir nichts Gutes. Zögerlich, aber doch sofort gehe ich ran und laufe dabei in die hinteren Regionen des Gebäudes, um ungestört sprechen zu können. Mit der anderen Hand halte ich mir das freie Ohr zu.
    Herr Weber ruft aus seinem Büro im Kinderheim an und teilt mir mit gedämpfter Stimme mit, dass Fynn soeben mit schweren Kopfverletzungen vom Notarzt ins Krankenhaus gefahren wurde.
    Man wisse nicht, wie es ihm ginge, aber die Sache sei ernst. Schwere Kopfverletzungen? Was heißt das? Es lässt sich nicht erklären, aber manchmal ist das so: Ich weiß sofort, das wird kein gutes Ende nehmen. Ich erkundige mich, was geschehen ist. So genau wisse man das nicht, aber es gab wohl eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe Mitschülern. Er weigert sich, Namen zu nennen. Ich bitte ihn, er weigert sich. Ich flehe ihn an, er weigert sich noch immer. Und eine etwas genauere Schilderung der Geschehnisse? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könne er nicht … ich müsse verstehen. Ich komme mir fast etwas schäbig vor.
    Ich muss zurück nach München. Mein Entschluss steht fest.
    Und dann will ich noch wissen, in welchem Krankenhaus Fynn liegt.
    Den Mikrofon-Funksender, der mir an den Hosenbund in meinen Rücken geklippt wurde, reiße ich achtlos raus. Ich sprinte zu meiner Garderobe, und der Aufnahmeleiter, der mir im Flur begegnet, ist mit seiner entspannten Frage nach meinem Befinden (Na, was vergessen? Gleich geht’s los, keine Panik, alles locker!) ein dermaßen starker Gegenpol zu meiner Verfassung, dass ich ihn nicht mal ansehen kann.
    Ich greife nach meiner Jacke mit meinem Portemonnaie und verlasse das Gebäude über eine Hintertür, die ich während des Telefonats in den Katakomben des Gebäudes ausfindig gemacht habe. Sie führt direkt auf eine Wiese. Eigentlich ein Notausgang. Ich stürme nach draußen, die Tür knallt laut zu. Es ist schon dunkel. Ich halte das Gesicht in den nassen Wind, der noch kälter ist als vorhin. Das Gras ist nass, und sofort sind die Säume meiner Hose und meine Schuhe ebenfalls feucht. Ich umrunde den Komplex und renne die Auffahrt herunter, Richtung Schranke. Eine Frau in einem Kleinwagen kommt mir entgegen, Parkticket im Mund, das sie gerade an der Schranke gelöst hat.
    Ich passiere die Schranke im Sprint.
    Mainz – München? Ungefähr viereinhalb Stunden, schätzt der Taxifahrer, der mich auf der Hauptstraße aufgenommen hat. Okay los. Akzeptieren Sie American Express? Okay los. Der Regen draußen ist nach wie vor dicht. Das Gleiche gilt für den Verkehr.
    Auf der endlosen Fahrt denke ich über alles nach, spiele alles durch. Lasse nichts außer Acht. Kurz vor München entschuldigt sich Herr Weber auf einer extrem schlechten Leitung für den späten Anruf, 22 Uhr 42, aber Fynn ginge es laut dem behandelnden Stationsarzt zunehmend schlechter, wie er gerade erfahren habe. Ob ich unterwegs sei. Fünf Minuten später meldet er sich erneut. Das Klingeln klingt so giftig. Ich weiß, was los ist. Herr Weber bestätigt mir: Fynn ist soeben gestorben.

54
    Ich bin so voller Energie, wie ich es vielleicht noch nie war. Das Leben pumpt durch meine Venen. Meine Kraft erinnert
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