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Emerald: Hörspiel

Titel: Emerald: Hörspiel
Autoren: John Stephens , Alexandra Ernst
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Prolog
    Sie erwachte, weil jemand sie an der Schulter rüttelte. Ihre Mutter beugte sich über sie.
    »Kate.« Die Stimme war leise und drängend. »Hör mir genau zu. Ich möchte, dass du etwas für mich tust. Ich möchte, dass du auf deinen Bruder und deine Schwester aufpasst. Hast du verstanden? Pass auf Michael und Emma auf.«
    »Was … ?« »Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Versprich mir, dass du dich um die beiden kümmerst.«
    »Aber …«
    »Ach, Kate, bitte! Versprich es mir einfach.«
    »Ich … ich verspreche es.«
    Es war Heiligabend. Den ganzen Tag lang hatte es geschneit. Als Älteste hatte Kate nicht so früh ins Bett gehen müssen wie ihr Bruder und ihre Schwester. Noch lange nachdem die Weihnachtslieder verklungen waren, hatte sie mit ihren Eltern vor
dem Kamin gesessen und heiße Schokolade getrunken, während die Bescherung stattfand. Die beiden Jüngeren würden ihre Geschenke am nächsten Morgen bekommen. Sie hatte sich mit ihren vier Jahren sehr erwachsen gefühlt. Ihre Mutter schenkte ihrem Vater ein kleines, dickes Buch, abgewetzt und uralt, worüber er sich sehr freute. Er dagegen schenkte ihr ein Medaillon an einer Goldkette. Im Inneren des Medaillons war ein winziges Bild der drei Kinder – Kate, der zweijährige Michael und das Baby Emma. Dann war es schließlich doch Zeit gewesen, ins Bett zu gehen, und Kate hatte in der Dunkelheit gelegen, warm eingepackt und glücklich unter ihren Decken. Sie hatte sich gefragt, wie sie bloß einschlafen sollte, und dann, im nächsten Moment, hatte ihre Mutter sie wach gerüttelt.
    Die Zimmertür stand offen, und in dem Licht, das aus dem Flur hereinfiel, sah sie, wie ihre Mutter hinter ihren Nacken griff und die Goldkette mit dem Medaillon löste. Sie beugte sich vor, schob ihre Hände unter Kates Nacken und befestigte die Kette dort. Das Mädchen spürte das weiche Haar der Mutter, roch den Pfefferkuchen, den sie am Nachmittag gebacken hatte, und dann tropfte etwas Nasses auf ihre Wange. Ihre Mutter weinte.
    »Denk immer daran, dass dein Vater und ich euch sehr lieben. Und wir werden wieder zusammen sein. Das verspreche ich.«
    Kates Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie öffnete den Mund, um zu fragen, was los war, als plötzlich ein Mann im Türrahmen stand. Das Licht war in seinem Rücken und so konnte Kate sein Gesicht nicht sehen. Aber er war groß und dünn und trug einen langen Mantel und etwas, das so aussah wie ein zerknautschter Hut.
    »Es ist Zeit«, sagte er.

    Seine Stimme und der schattenhafte Umriss – diese große Gestalt im Türrahmen – sollten Kate noch jahrelang verfolgen, denn es war das letzte Mal, dass sie ihre Mutter sah. Das letzte Mal, dass die Familie beisammen war. Dann sagte der Mann etwas, das Kate nicht verstehen konnte, und plötzlich war es, als ob ein schwerer Vorhang ihren Geist verhüllte und den Mann im Türrahmen auslöschte, das Licht, ihre Mutter, alles.
    Die Frau hob das schlafende Kind hoch, wickelte es in Decken und folgte dem Mann die Treppe hinunter, am Wohnzimmer vorbei, wo immer noch das Feuer im Kamin brannte, und hinaus in Kälte und Dunkelheit.
    Wenn sie wach gewesen wäre, hätte Kate ihren Vater im Schnee neben einem alten schwarzen Wagen stehen sehen. Ihr Bruder und ihre Schwester schliefen in seinen Armen. Der große Mann öffnete die Wagentür zum Rücksitz und der Vater legte seine Last auf dem Sitz ab. Dann wandte er sich um, nahm Kate aus den Armen ihrer Mutter und legte sie neben ihren Bruder und ihre Schwester. Mit einem leisen Schnappen schloss der große Mann die Tür.
    »Ist es endgültig?«, fragte die Frau. »Gibt es ganz gewiss keine andere Möglichkeit?«
    Der Mann war in den Schein einer Straßenlaterne getreten. Zum ersten Mal konnte man ihn deutlich erkennen. Einem unbeteiligten nächtlichen Spaziergänger wäre bei seinem Anblick vielleicht ein wenig mulmig geworden. Sein Mantel war mit bunten Flicken übersät und die Ärmel waren ausgefranst. Darunter trug er einen alten Tweedanzug, an dem ein Knopf fehlte. Sein weißes Hemd war mit Tinten- und Tabakflecken beschmutzt. Das Merkwürdigste aber war seine Krawatte, die nicht nur einmal, sondern zweimal gebunden war. Es sah
aus, als wäre er sich nicht sicher gewesen, ob er sie schon gebunden hatte, und hätte – ohne in den Spiegel zu schauen – einen zweiten Knoten gemacht. Sein weißes Haar sah zottelig unter dem Hut hervor, und seine Augenbrauen standen wie schneeweiße Hörner von seiner Stirn ab, wölbten sich
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