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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia
Autoren: Robin Felder
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Schrittfolge eigenartig unsicher. Kurz gerate ich zwischen zwei Spiegel und erblicke das Spiegelbild meines Spiegelbilds meines Spiegelbilds, das sich in die Unendlichkeit fortsetzt, und wundere mich über mein Profil, das ich ja nur aus der Zeitung kenne.
    »Was machen wir?«
    »Mittel bitte.«
    Damit ist alles gesagt. Die Kerle hier drinnen schneiden sowieso immer bloß ihre eigene Frisur nach. Was anderes haben die nicht drauf. Die sehen alle gleich aus.
    Ich bekomme eine Papierhalskrause und einen Umhang verpasst.
    Vielleicht sollte ich statt »mittel« einfach mal »kurz« sagen. Aber das erfordert ein gewisses Vertrauensverhältnis. Und gerade heute habe ich kein Verlangen nach einem Aha-Erlebnis.
    Ein versiffter Kamm gleitet durch mein nasses Haar. Es geht los, leises, schnelles Schnippschnapp. Mustaphas Miene vermittelt überdeutlich die Information, dass er keinen Spaß an seinem Job hat. Er hantiert dennoch geschickt und auffallend schnell mit seiner Schere und lässt sie zwischendrin immer wieder ins Leere schnappen, um die an den Schneiden klebengebliebenen Haarspitzen abzustreifen. Geschick und Begabung sind unabdingbar für das Friseurhandwerk, und es ist mir nur schwer nachvollziehbar, warum sich im Speziellen über weibliche Mitglieder dieser Zunft eine eigene Witzgattung entwickelt hat.
    »Kopf gerade halten«, kommt es von hinter mir. Es klingt etwas ungeduldig. Ich sehe auf die Uhr, die im oberen rechten Spiegelrand reflektiert wird. Zehn vor vier bedeutet zehn nach acht. Ich denke mir: Ich bin gut in der Zeit. Ein unsichtbares Härchen unter meiner Nasenspitze entferne ich durch dezentes Naserümpfen und Schnauben. Drei kurze Stöße. Es funktioniert. Das sich anbahnende Niesen ist abgewendet. Eine kurze Unterbrechung, Mustapha zieht seine Hose ein Stück hoch. Einer seiner Kollegen begrüßt im Hintergrund einen neuen Kunden. Dieser Kollege ist das genaue Gegenteil von Mustapha. Auf Grund seiner mangelnden Deutschkenntnisse ist er geradezu beseelt von dem Bemühen, Herzlichkeit zudemonstrieren. Das eine Extrem gefällt mir genauso wenig wie das andere.
    Mustapha steht dicht neben mir, keine zwei Zentimeter. Meine Kopfhaut registriert seine Körperwärme. Kurz sehe ich seinen flinken Handgriffen wieder zu und schaue dann bewusst weg, in dem Glauben, allzu aufmerksames Verfolgen des Entstehungsprozesses könnte dem Gelingen seines Werks abträglich sein.
    Regen trommelt auf die obere Hälfte der Fensterfront und läuft wie ein Wasserfilm an der Scheibe herunter.
    »Soll ich hier kürzer, oder ist gut so?«, fragt mich der Maestro mit meinem Deckhaar zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger und setzt bereits zum Schnitt an.
    »Gut so«, sage ich, wie aufgeschreckt, als gebe es einen Unterschied, und möchte eine unterstreichende Geste machen, aber wenn ich meinen Arm unter der Schürze hervorhole, fallen mir meine abgeschnittenen Haare auf den Ärmel.
    Wie viele Haare durchtrennt ein Friseur im Durchschnitt in seiner Karriere?
    Ein bald fünfzigjähriger, schwerer Mann betritt den Salon. Schüttelt seinen Schirm und wuchtet seinen fassbäuchigen Körper auf den Stuhl neben mir. Um seinen Mund liegt ein mürrischer Zug. Er gibt Instruktionen, was an seinem breiten Schädel zu tun ist und beginnt gleich darauf zu quasseln. Irgendwas mit Sport. Irgendein Fußballspieler bringt für sein Millionengehalt nicht genug Leistung, keine Ahnung. Viererabwehrkette, Trainerablösung. Der übliche Fachsimpelei-Blödsinn eben. Rechthaberisch im Ton, obwohl sowieso niemand widerspricht. Für meine Begriffe wird Sport eine Bedeutung beigemessen, die ihm nicht zusteht. In gewisser Weise ist die Verehrung von Sportlern genauso wenig sinnig wie die Verspottung von Friseusen.
    Ich schließe die Augen und versuche, das Stammtischgeschwätzauszublenden. Obwohl dummes Gelaber auch einen ganz eigenen intellektuellen Reiz hat. Mit einem Mal beginnt mein sportbegeisterter Sitznachbar von diesem pädophilen Pfarrer zu erzählen, der sich soundsoviele Ministranten vorgenommen hat. In irgendeinem fränkischen Kaff. Was seit Tagen mediales Topthema sein soll – ich habe erst gestern davon gelesen. Und ehrlich gesagt, das echte Topthema ist momentan eher ein gewisser Terroranschlag auf ein Flugzeug nahe Moskau. Trotzdem bin ich ganz Ohr, als er seiner Meinung zu diesem katholischen Kinderschänder freien Lauf lässt. Ich versuche nicht hinzuhören, möchte mich auf etwas anderes konzentrieren, aber er fängt an, sich in Rage zu
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