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Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)

Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)

Titel: Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Autoren: Aimee Agresti
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    Eine einmalige Chance
    B is zu diesem Zeitpunkt war der Englischunterricht ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen. Wir lasen gerade Das Bildnis des Dorian Gray . Mrs Harris hatte es sich mit ihrem ausladenden Hintern auf der Kante des angeschlagenen hölzernen Pults gemütlich gemacht und suchte in den Augen ihrer Schüler nach einem Aufflackern von Verständnis oder zumindest Interesse, blickte aber nur in ratlose Gesichter. Ich rutschte auf meinem Stuhl weiter nach hinten und versteckte mich hinter meinen dünnen langen Haaren, die von der schmuddelig-klammen Winterkälte noch ganz feucht waren. Auf aktive Teilnahme am Unterricht hatte ich noch nie viel Wert gelegt. Ich hätte zwar meistens etwas beitragen können, erregte aber ungern Aufmerksamkeit. Jede richtige Antwort würde meinen Ruf als Bücherwurm und Außenseiterin nämlich noch untermauern, jede falsche bewies nur, dass ich selbst als Streberin eine Niete war. Egal, wie ich es anstellte, ich machte es falsch, also las ich lieber im Buch weiter, blendete Mrs Harris aus und sah nur gelegentlich zur Uhr über der Tafel oder zu den Fenstern hinüber, vor denen sich an diesem eisigen Januartag ein aufgewühlter, kalkweißer Himmel zeigte. Evanston, Illinois. So würde die Tundra rund um Chicago bis April aussehen, aber das störte mich eigentlich kaum. Wer sich einem so wütend peitschenden Wind stellen muss, fühlt sich nämlich automatisch stärker, selbst wenn er sich wie ich leicht herumschubsen ließ.
    »Kommen wir also auf die Eigenschaften von Gut und Böse sowie den Hedonismus zu sprechen«, leierte Mrs Harris weiter ihren Text herunter.
    Dieses Stichwort ließ mich automatisch zu Jason Abington rübersehen. Der Basketballer mit dem kurz geschorenen Schopf trug sein Trikot mit der Nummer Neun, um für das große Spiel am Wochenende zu werben. Er knabberte gerade an der Kappe eines blauen Kugelschreibers herum – meines blauen Kulis. Plötzlich hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Und aus genau diesem Grund quoll die Außentasche meines Rucksacks auch immer vor Kugelschreibern über, die ich mir hoffnungsvoll in rauen Mengen zugelegt hatte. Offenbar brachte Jason nie selbst was zum Schreiben mit, und nachdem er sich vor Wochen mal einen Stift von mir geliehen hatte, war es wieder und wieder passiert, bis ich zu seinem offiziellen Kugelschreiberlieferanten avanciert war. Am Tisch neben ihm schwang eine blonde Kreatur – seine blonde Kreatur – namens Courtney ihre aufregende Lockenstabmähne nach hinten. Auf so etwas waren Jungen wie Jason gepolt. Ich hatte mit Courtney nichts gemein und konnte mir auch nicht vorstellen, jemals wie sie zu werden, trotz der ach so wundersamen Wandlung, die man doch angeblich in der Highschoolzeit durchmachte. Bei mir waren die Veränderungen noch in vollem Gange, es gab aber keinerlei Anzeichen dafür, dass das Endprodukt jemals einer Courtney gleichen würde.
    Inzwischen achtete ich überhaupt nicht mehr auf Harris’ Unterricht, bis mich schließlich ihre Stimme aus meinen Träumen riss: »Miss Terra? Haven? Hören Sie mir überhaupt zu?«
    Eigentlich nicht. Ich klaubte die Bruchstücke zusammen, die ich von ihrem Vortrag mitbekommen hatte, überlegte, was sie mich wohl gefragt haben konnte, und fabrizierte dann eine Antwort, die schon irgendwie passen würde. »Äh, Dorian und Lord Henry lassen sich von ihren Gefühlen leiten und tun, wonach ihnen der Sinn steht, ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen oder, äh, moralische Bedenken?«, schlug ich vor und spürte, wie sich auf meiner Stirn Schweißtröpfchen bildeten. Jason drehte sich ein wenig in meine Richtung um, und jetzt konnte ich auch die Blicke anderer Mitschüler spüren.
    »Danke, wunderbar.« In der Hand hielt Mrs Harris einen Zettel, den ihr eine gelangweilte, Kaugummi kauende Schülerin aus der Abschlussklasse überreicht hatte, die gerade schon wieder den Raum verließ. »Aber Sie werden im Büro der Schulleitung erwartet.«
    Meine Klassenkameraden ließen ein leises »Oooh« vernehmen, ich packte die Bücher zusammen und schulterte meinen Rucksack. Als ich mich durch den Gang zwängte und an Jason vorbeikam, sah der kurz auf. Mit völlig ausdrucksloser Miene kaute er immer noch an meinem Stift herum.
    Ich ging jetzt bereits seit zweieinhalb Jahren auf die Highschool, war aber noch nie ins Büro von Rektorin Tollman zitiert worden – ich gehörte einfach nicht zu dieser Sorte Mädchen. Also fragte ich mich wirklich, was da los war. Meine
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