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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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hier vor ihnen.
    Er strich sich den nassen Sand ins Gesicht. Die Kameraden konnten von dieser Schwäche nichts sehen.
    An dem Morgen waren aus dem anderen Wagen Geräusche zu hören. Gedämpfte Stimmen, ein bis dahin nie gehörtes Geschiebe, Gepolter, der Lärm eiligen Tuns.
    Dann eine gespannte Stille.
    Er horchte nicht, sondern lauschte einfach auf die Art der Stille. Legte den Wildlederlappen in die Schublade zurück und platzierte die Brille vorsichtig und umständlich auf seiner Nase.
    Sie hatten beschlossen, einer soll an der Stelle bleiben, wo sie ans Meer gelangt waren. Bemerkt er keine Gefahr, gibt er im Abstand von einigen Minuten zwei schwache Signale mit der Taschenlampe. Die hieß Katzenauge, weil sie nicht auf Batterie, sondern auf einen mit Druck betätigten Dynamo ging, bis die feinen kleinen Kohlenbürsten darin verbraucht waren. So sicherten sie den Rückweg. Zu zweit gingen sie am Strand nach Norden weiter, in die Richtung, in der sie die Stadt Husum vermuteten. Von dorther schlug ihnen der Wind in die Augen. Erst viel später, im Kriegsgefangenenlager bei Hamburg, erfuhr Bizsók, dass sie in die Gegenrichtung hätten gehen sollen.
    Als sie ein erstes Mal zurückblickten, sahen sie in dem vom Wellengang tobenden Dunkel die schwachen Signale des Katzenauges, beim zweiten Mal nicht mehr.
    Jeden Morgen endete seine Geschichte anders, und am folgenden Morgen ging sie noch anders weiter. Kaum saßen die Augengläser auf seiner Nase, brachte die scharf werdende Sicht die aus seinen Träumen nachklingenden Gefühle zum Verschwinden. Bevor er an seine Liege trat, um sie soldatisch in Ordnung zu bringen, stand er einige Augenblicke bei dem kleinen Tisch. Er verschränkte die Hände nicht, auch seine Lippen bewegten sich nicht, aber er betete. Immer dasselbe, ein Vaterunser. Er betete darum, Fervega wiederzusehen. Das Vaterunser war das Richtige, da brauchte er nicht auf die Wörter zu achten, konnte unterdessen über Dinge nachdenken, an die er nicht denken durfte. Die Worte des Gebets führten ihn zuweilen weit weg, das Wort sann gewissermaßen über sich selbst nach.
    Einmal wandte er sich als treuer Sohn an den Vater, dann wieder war er selbst der Vater, der für den Sohn sorgen musste. Das Gefühl hatte nichts mit Dankbarkeit zu tun. Er dankte für nichts, bat um nichts, eher gab er vielleicht. Er öffnete sich allem, was kommen mochte.
    Den leeren Platz hingegen füllte er nie. Er konnte das Bett eines fremden Menschen im Namen von keinerlei Gleichheit und Gerechtigkeit dahinein stellen.
    Zuerst wurden sie, als sie endlich in Gefangenschaft gerieten, von den Engländern in ein Städtchen namens Pfeilen verbracht. Unter den Engländern war ein hochgewachsener Ungar, ein András Rott, ein junger schwarzhaariger Mann, der mit ihnen sprechen konnte.
    Er redete ihnen zu, nur Ruhe, Jungs, es wird schon gut.
    Die gähnende Leerstelle war für ihn wie ein Zeichen seines Altwerdens. An dem Sommermorgen, der auf Hitze vorausdeutete, vergaß er das Vaterunser. Seit Wochen versprach der wolkenlose Himmel keine Abkühlung. Der Himmel, wo unser Vater hätte sein sollen, hatte keine Gestalt, nicht einmal die Farbe des Himmels. Der konnte nicht blau sein, keine schwarzen Wolken konnten mit dem Wind über ihn ziehen. Wenn er dieses Wort für sich aussprach, sah er einen Himmel, wie ihn die Katholiken an die Decke ihrer Kirchen malen. Oder er sah gar nichts, aber das störte ihn nicht, es konnte ja kein Zweifel darüber bestehen, dass das Wort von einer unsichtbaren Schönheit kündete. Jetzt hatte er ein Gefühl im Mund, als müsse er sofort ausspucken. Es erinnerte noch am ehesten an den Geruch des nassen Sands mit dem Tang, den Algen und Muscheln, wie er ihn sich gerade vom Mund gewischt hatte. Als flüsterte man ihm sehr entschieden ins Ohr, dass es nicht nur einen Himmel gibt, wie er bisher angenommen hatte, sondern mehrere, und auch die Väter sind zahllos.
    Aber damit mochte er sich nicht abgeben, da er es sich nicht vorstellen konnte.
    Im anderen Wohnwagen hatte die gespannte Stille, die auch Bizsók aufgestört hatte, Tuba ebenfalls geweckt. Er lag auf dem Bauch, sein Kopf war im Kissen versunken. Er war kein schreckhafter Mensch, aber über seinen weich ruhenden Körper lief doch ein Zucken, das zuerst seine feinfühlige Haut darauf aufmerksam machte, dass etwas Außerordentliches vor sich ging, erst danach öffnete er die Augen. Er sah, was er sah, und eine Gänsehaut überlief seinen ganzen Körper, auch
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