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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten
Autoren: Péter Nádas
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über die Eigenheiten des Strands noch des Wassers irgendetwas wusste, aber weit davon weggeraten durften sie auch nicht, das Landesinnere war noch gefährlicher.
    Früher oder später mussten sie eine menschliche Siedlung finden, die sie dann aus gebührender Distanz in Augenschein nehmen würden. Es war besser, sich vom Wasser her zu nähern. Seit sie über die ungarische Grenze getrieben worden waren, hinter den sich zurückziehenden deutschen Armeen her, hatten sie das Gefühl, dass sie gehen konnten, wohin sie wollten, und sei es auch bis zum Rand der Landkarte, dieses verfluchte Deutschland würde nie aufhören, da kämen sie nie mehr heraus.
    Es gab solche unter ihnen, die während der kurzen Verschnaufpausen weinten. Die anderen mussten sich abwenden.
    Fervega wollte nicht, dass sie anhielten.
    Nach einigem Marschieren erblickten sie in der Ödnis unter einer tiefhängenden schwarzen Wolke ein blockartiges, hohes Gebäude aus schwarzem Stein. Und wie sie marschieren, sehen sie, dass das hohe Gebäude von jeglicher menschlichen Siedlung isoliert steht. Wie der Getreidespeicher eines Landguts oder das Schiff einer noch unbekannten mittelalterlichen Kathedrale. Beim Nähergehen bildeten sie eine Kette, duckten sich, richteten sich wieder auf, hofften auf einen Brunnen, auf Feuer, um sich wenigstens trocknen zu können. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes, wo sich auch die Luftströmungen verändern, kam es ihnen vor, als hörten sie das Summen menschlicher Stimmen, oder Kirchengesang. Es erinnerte an das Summen eines nahen Bienenstocks oder eines entfernten Marktplatzes.
    Aber wenigstens gab es da einen Brunnen, aus der Nähe sahen sie das jetzt.
    Das alles war am vorangegangenen Nachmittag geschehen. Fervega hatte nur ein Handzeichen gegeben, sie wussten, was sie zu tun hatten, um zum Brunnen zu gelangen.
    Fervega trat unter entsetzlichem Gebrüll die spitzbogige, geschnitzte Eichentür des Gebäudes ein, die sowieso nur angelehnt war, Bizsók stand mit vorgehaltenem Gewehr rechts vom Zugführer, während die anderen das Gebäude umzingelten. Es hatte keine weiteren Öffnungen, durch die sie jemand überfallen konnte. Der Mensch, der seinen Durst löschen will, ist schutzlos. Nur weit oben gab es schießschartenähnliche Fenster mit Läden und herausgebrochenen Scheiben. Das Gebäude musste innen eine Weile gebrannt haben, trotzdem hatten die herausschlagenden Flammen die Fensterläden nicht erreicht. Um trinken zu können, mussten sie den Ort zuerst besetzen. Bizsók und Fervega feuerten sogleich eine Salve ab, sie hörten die dumpfen Einschläge der Schüsse. Hinter dem aufgeknallten Türflügel sahen sie zunächst nichts. Was sie im Halbdunkel sahen, war ihr eigenes Entsetzen, und da war eine unheilvolle Hitze, die sie anhalten ließ. Drinnen gab es so viel Licht, wie durch die Spalten und Bruchstellen des schwer beschädigten Dachs kam.
    Es dämmerte schon.
    Der schauderhafte Gestank erreichte sie unvorbereitet, er schlug ihnen warm in die Nase, erst danach gelang es ihnen, mit dem Bewusstsein zu erfassen, was sie spürten und sahen. Röcheln, eine wahnsinnige, an kein Weinen erinnernde Klage wie eine Art Wiegenlied, von weiter weg ausdauerndes Wimmern, am Rand der Besinnung zappelnde Rufe.
    In diesen langen Augenblicken waren sie tatsächlich ungeschützt, jeder Beliebige hätte sie töten können.
    Sie standen im summenden Bienenstock des singenden Wundfiebers.
    Sie traten nicht ein, sahen aber, dass diese Wracks Deutsche waren. Ein Blick genügte. Hier lagen die Schwerverwundeten eines evakuierten Lazaretts, auf den nackten Klinkerboden gekippt, ihrem Schicksal überlassen. Einige lagen auf Tragbahren zwischen den Toten, so wie die Fliehenden sie hier abgestellt hatten.
    Das Brunnenwasser stank nach Kadavern.
    Wer zu trinken wage, zischte der Feldwebel und pflanzte sich vor dem Eimer mit dem kadaverstinkenden Wasser auf, den erschieße er eigenhändig.
    Lange konnten sie nicht beratschlagen, hinter dem Gebäude, gar nicht weit weg, verlief eine Straße, wie sie entdeckt hatten. Dort tauchten schon die ersten fremden Kampffahrzeuge auf, die Straße in der Ödnis konnte nicht weiter weg sein als fünfhundert Meter. Das Gebäude mochte als vorübergehende Zuflucht dienen, in der Deckung der nahenden Nacht würden sie hingegen weiterziehen müssen. Während sie am Brunnen darüber beratschlagten und die vorbeifahrenden feindlichen Panzer im Auge behielten, kroch aus der offen gelassenen Tür ein von Schlamm
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