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Die Verbannung

Die Verbannung

Titel: Die Verbannung
Autoren: Cesare Pavese
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Band 96 der Bibliothek Suhrkamp

    Cesare Pavese  
Die Verbannung

    Suhrkamp Verlag

    Deutsch von Arianna Giachi

    Erstes bis fünfes Tausend 963
    Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Claassen Verlags GmbH, Hamburg · Deutsche Obersetzung: © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 963 · Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany · Titel der italienischen Originalausgabe ›Il carcere‹ erschienen in dem Band »Prima che il gallo canti«, © 96 Giulio Einaudi Editore S. p. a. Torino · Satz und Druck in Garamond Linotype Druckhaus Darmstadt · Bindearbeiten L. Fleischmann, Fulda

    Die Verbannung

    Stefano wußte, daß es ein Dorf war wie so viele, daß die Leute dort von einem Tag zum anderen lebten, daß die Erde keimte und daß das Meer eben das Meer war, wie an jeder beliebigen Küste. Über das Meer war Stefano glücklich. Wenn er an den Strand ging, stellte er es sich als die vierte Wand seines Gefängnisses vor, eine breite Wand aus Kühle und Farben, in die er eindringen konnte und seine Zelle vergessen. In den ersten Tagen hatte er sogar Kiesel und Muscheln in sein Taschentuch gesammelt. Und die Antwort des Wachtmeisters, der in seinen Papieren blätterte, war ihm ungemein menschlich vorgekommen: »Gewiß. Vorausgesetzt, daß Sie schwimmen können.«
    Ein paar Tage lang beobachtete Stefano die Feigenkaktushecken und den ausgeblichenen Meereshorizont wie seltsame Wirklichkeiten, deren natürlichste Seite es noch darstellte, unsichtbare Wände einer Zelle zu sein. Stefano nahm von Anfang an die Begrenzung des Horizontes, die die Verbannung bedeutet, mühelos hin: für ihn, der aus dem Gefängnis kam, bedeutete er die Freiheit. Zudem wußte er, daß man überall zu Hause ist, und die neugierigen und vorsichtigen Blicke der Leute versicherten ihn ihrer Sympathie. Fremd hingegen erschienen ihm in den ersten Tagen die dürre Erde und die Bäume und das wechselvolle Meer. Er sah sie und dachte fortwährend über sie nach. Je mehr sich indessen die Erinnerung an die wirkliche Zelle verfluchtigte, desto weiter trat auch die Gegenwart dieser Dinge zurück.
    Eines Tages überkam Stefano gerade am Strand eine neue Traurigkeit, als er mit einem jungen Mann, der sich an der Sonne trocknen ließ, ein paar Worte gewechselt hatte und dann wie täglich zu dem Felsen geschwommen war, den man als Boje benutzte. »Schreckliche Dörfer sind das hier«, hatte der junge Mann gesagt, »von hier unten macht alles sich davon in zivilisiertere Gegenden. Aber was wollen Sie! Wir müssen eben hier bleiben.«
    Der junge Mann, dunkel und muskulös, war ein Zöllner aus Mittelitalien. Seine Aussprache klang wie gemeißelt und gefiel Stefano. Sie sahen einander manchmal in der Gastwirtschaf.
    Auf dem Felsen sitzend, das Kinn auf die Knie gestützt, schaute Stefano mit halbgeschlossenen Augen zu dem trostlosen Strand hinüber. Das starke Sonnenlicht goß Verlorenheit darüber aus. Der Zöllner hatte das eigene Geschick dem seinen gleichgestellt, und Stefanos plötzlicher Kummer beruhte auf dieser Demütigung. Dieser Felsen, diese wenigen Ellen Wasser genügten nicht, um dem Festland zu entfliehen. Dort, zwischen diesen niedrigen Häusern, unter diesen vorsichtigen Leuten, die sich zwischen Meer und Gebirge zusammendrängten, mußte man mit der Isolierung fertig werden. Um so mehr als der Zöllner – wie Stefano argwöhnte – nur aus Höflichkeit von Zivilisation gesprochen hatte.
    Morgens ging Stefano durch das Dorf – die lange Straße entlang, die dem Strand parallel lief – und betrachtete die niedrigen Dächer und den hellen Himmel, während die Leute unter ihren Türen ihn betrachteten. Manche von den Häusern hatten zwei Stockwerke, und ihre Fassade war von dem Salzgehalt der Luf ausgeblichen; hier und dort beschwor das Laub eines Baumes hinter einer Mauer eine Erinnerung herauf. Zwischen einem Haus und dem nächsten wurde jeweils das Meer sichtbar, und jeder dieser Durchblicke überraschte Stefano wie das Erscheinen eines unerwarteten Freundes. Die dunklen Höhlen der niedrigen Türen, die wenigen offenstehenden Fenster und die finsteren Gesichter, das scheue Wesen der Frauen, auch wenn sie zum Leeren von Geschirren auf die Straße kamen, bildeten zu den strahlenden Wellen einen Gegensatz, der Stefanos Isolierung vertiefe. Sein Spaziergang endete vor der Tür der Gastwirtschaf, in die er eintrat, um dort bis zum Nahen der Badezeit mit ihrer glühenden Hitze zu sitzen und seine Freiheit zu genießen.
    In dieser
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